Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Boston war), wachte ich beim Rumpeln der
Kohlen auf und stellte mir vor, daß meine Mutter genau in diesem Moment zu
singen anfing. Im Sommer, wenn die Fenster offenstanden, wachte ich auf und
hörte die Vögel im Rosengarten meiner Großmutter. Und da gab es noch so eine
feste, unumstößliche Meinung meiner Großmutter, die neben der über Steine und
Bäume wurzelte: Jedermann konnte Blumen oder Gemüse in seinem Garten haben,
doch ein richtiger Gärtner hatte Rosen; meine Großmutter war eine richtige
Gärtnerin.
    Das Wirtshaus ›The Gravesend Inn‹ war das einzige andere
Ziegelsteinhaus, dessen Größe sich mit dem Haus meiner Großmutter in der Front
Street vergleichen ließ; und oft verwechselten Reisende das Haus meiner
Großmutter mit dem Wirtshaus, weil sie den üblichen Anweisungen, die man ihnen
in der Stadtmitte gegeben hatte, gefolgt waren: »Wenn Sie an der Schule vorbei
sind, sehen Sie linker Hand das große Ziegelsteinhaus.«
    Das fuchste meine Großmutter – es schmeichelte ihr nicht im
geringsten, daß man ihr Haus mit einem Wirtshaus verwechselte. »Das hier ist kein Wirtshaus«, informierte sie die verdutzten Reisenden,
die jemand Jüngeres erwartet hatten, um ihr Gepäck hineinzutragen. »Dies ist
mein Haus«, verkündete Großmutter. »Das Wirtshaus ist noch ein Stück weiter«,
sagte sie und machte eine vage Handbewegung. »Noch ein Stück weiter« ist schon
ziemlich genau, verglichen mit anderen Wegbeschreibungen in New Hampshire; in
New Hampshire zeigt man nicht gern jemandem den Weg – wer nicht weiß, wo er
hinwill, der gehört auch nicht dahin, wo er ist, findet man. In Kanada sind wir
viel großzügiger, wir zeigen jedem den Weg, egal wohin.
    In unserem alten großen Haus in der Front Street gab es auch einen
Geheimgang – ein Bücherregal, das in Wirklichkeit eine Tür war, hinter der eine
Treppe hinunterführte in einen Kellerraum mit Lehmboden, der keinerlei
Verbindung zu dem Kellerraum [33]  hatte, in dem
die Kohlen lagen. Und das war alles: ein Bücherregal, das eine Tür war, die zu
einem Ort führte, wo absolut nichts passierte – man konnte sich lediglich darin
verstecken. Wovor? fragte ich mich immer. Daß es so
einen Geheimgang in unserem Haus gab, fand ich nicht gerade beruhigend; im
Gegenteil, er ließ mich immer wieder darüber nachdenken, was wohl so bedrohlich
sein könnte, daß man sich davor verstecken mußte – und sich so etwas
vorzustellen ist nie beruhigend.
    Einmal zeigte ich dem kleinen Owen Meany diesen Geheimgang, und ich
ließ ihn da unten, ganz allein, im Dunkeln, und er hat eine Höllenangst
ausgestanden; das habe ich natürlich mit all meinen Freunden gemacht, aber Owen
Meany Angst einzujagen war immer etwas anderes, als anderen Angst einzujagen.
Es war seine Stimme, seine kaputte Stimme, die seine Angst so einzigartig
machte. In den letzten dreißig Jahren habe ich immer wieder versucht, Owen
Meanys Stimme nachzuahmen, und diese Stimme verhinderte auch, daß ich jemals
glaubte, über Owen schreiben zu können, denn auf dem
Papier kann man dieser Stimme einfach nicht gerecht werden. Und ich konnte mir
genausowenig vorstellen, daß ich Owens Geschichte mündlich wiedergeben könnte, denn der Gedanke, seine Stimme nachzuahmen – in der
Öffentlichkeit – ist geradezu peinlich. Ich brauchte mehr als dreißig Jahre,
ehe ich es fertigbrachte, Owens Stimme mit Fremden zu teilen.
    Meine Großmutter regte sich so sehr über Owen Meanys Stimme auf, mit
der er gegen den Mißbrauch seiner Person im Geheimgang protestierte, daß sie
mich zur Rede stellte, nachdem Owen aus dem Haus gegangen war. »Du sollst mir
nicht beschreiben – niemals, hörst du! – was du dem armen Jungen angetan hast,
daß er solche Geräusche von sich gegeben hat; aber wenn du es noch einmal tust,
dann halt ihm bitte den Mund zu«, sagte Großmutter. »Hast du schon mal eine
Maus in der Falle gesehen?« fragte sie mich. »Ich meine, wenn sie gefangen ist, und ihr kleiner [34]  Hals
ist gebrochen – ich meine, wenn sie wirklich mausetot ist«, sagte Großmutter.
»Also, dieser Junge«, fuhr meine Großmutter fort, »könnte mit seiner Stimme
solche Mäuse wieder lebendig machen!«
    Und mir drängt sich jetzt der Gedanke auf, daß Owens Stimme tatsächlich
die Stimme aller ermordeten Mäuse war, die wieder zum Leben erwachten – beseelt
von Rachegedanken.
    Ich möchte meine Großmutter keineswegs als gefühllos darstellen. Sie
hatte ein Hausmädchen namens Lydia, das jahrelang für uns
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher