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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Autoren: Tad Williams
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nichts mit den Karikaturen von Höhlenmenschen gemein hatten, die er kannte. Sie waren in rauhe Felle gekleidet; viele trugen Knochen- oder Steinstückchen an Sehnenschnüren, aber nichts, was sich mit dem Schmuck vergleichen ließ, der selbst die zurückgebliebensten Stämme aus Pauls Zeit zierte. Die meisten der kleineren Kinder waren nackt und hatten die Körper mit Fett eingerieben, das im Feuerschein glänzte, wenn sie aus den Zeltöffnungen hervorlugten, schimmernde kleine Wesen, die ihn an viktorianische Darstellungen von Gnomen und Wichteln erinnerten.
    Es wurde überraschend wenig Aufhebens um die Rückkehr der Jäger gemacht, obwohl Läuft-weit ihm erzählt hatte, daß sie tagelang unterwegs gewesen waren. Die Männer begrüßten ihre Angehörigen und Lieben, indem sie sie behutsam mit den Fingern berührten, wie um sich zu vergewissern, daß sie wirklich waren, und hin und wieder rieb jemand sein Gesicht an das von jemand anders, aber es gab kein Küssen, wie Paul es kannte, kein Händeschütteln und kein Umarmen. Paul selbst wurde offensichtlich mehrmals erwähnt – er sah einige der Jäger auf ihn deuten, wie um zu belegen, was für ein seltsames Abenteuer es gewesen war –, doch er wurde niemandem vorgestellt, und soweit er sehen konnte, gab es auch keine klare Hierarchie. Ungefähr zwei Dutzend Erwachsene schienen die Höhle zu bewohnen und nicht ganz halb so viele Kinder.
    Noch während einige der Menschen über das Hirschfleisch jubilierten, machten andere sich bereits auf höchst professionelle Art daran, es zuzubereiten. Zwei Frauen griffen sich lange Stöcke und schoben damit in einem Teil der Feuergrube die brennenden Holzklötze auf eine Seite, so daß ein Bett flacher Steine zum Vorschein kam. Dann legten sie mehrere Fleischstücke auf diesen heißen Steinen aus, und kurz darauf erfüllte schon Bratengeruch die Luft.
    Paul ließ sich in einer Ecke nieder, wo er aus dem Weg war. Hier in der Höhle war es viel wärmer, aber immer noch kalt, und er zog seine Felle fest um sich und sah der raschen Rückkehr zum normalen Leben zu, der regen Geschäftigkeit, die alle außer den Jägern sofort entfalteten. Paul vermutete, daß sonst auch sie abends tätig waren, neue Waffen herstellten und alte reparierten, aber heute abend waren sie von einer langen, erfolgreichen Jagdpartie heimgekehrt und durften auf den Lohn der Sieger warten, die ersten Portionen des erlegten Wildes.
    Eine der Frauen holte mit einem Stock einen ansehnlichen Batzen Fleisch aus dem Feuer, legte ihn auf ein Stück Rinde und überreichte ihn Läuft-weit wie eine Opfergabe. Er führte das Fleisch an den Mund, biß einen Happen ab und grinste beifällig, doch statt es aufzuessen, zerteilte er es mit seinem Messer in zwei Hälften, woraufhin er sich erhob und sich mit dem Rindenteller vom Feuer entfernte und in eines der Zelte trat. Niemand sonst schien dem Beachtung zu schenken, aber Paul war fasziniert. Brachte er das Essen einer bettlägerigen Frau oder einem kranken Kind? Einem altersschwachen Vater oder einer hinfälligen Mutter?
    Läuft-weit blieb eine Weile in dem Zelt; als er wieder herauskam, steckte er sich gerade das letzte Stück Fleisch in den Mund und zerkaute es energisch mit seinen breiten Kinnladen. Nichts gab einen Hinweis darauf, was dort drinnen geschehen war.
    Eine Bewegung an seinem Ellbogen erregte Pauls Aufmerksamkeit. Ein kleines Mädchen stand neben ihm und starrte ihn erwartungsvoll an. Wenigstens nahm er an, daß es sich um ein Mädchen handelte, obwohl die Jungen genauso zottelhaarig waren und eine eindeutige Aussage durch den Fellrock um die Hüften des Kindes erschwert wurde. »Wie heißt du?« fragte er.
    Sie kreischte voll übermütigem Entsetzen auf und lief davon. Mehrere andere Kinder lösten sich aus dem allgemeinen Getümmel, um ihr lachend und in hohen, vogelähnlichen Tönen schreiend nachzujagen. Gleich darauf fiel ein anderer, größerer Schatten auf ihn.
    »Sprich nicht mit dem Kind.« Vogelfänger blickte ärgerlich, aber Paul kam es so vor, als sähe er hinter der finsteren Miene des Mannes nackte Panik. »Sie ist nicht für dich.«
    Paul schüttelte verständnislos den Kopf, doch der andere drehte sich einfach um und ging fort.
    Meint er vielleicht, ich hätte es auf sie abgesehen? Oder ist es dieses Ding mit dem Land der Toten? Vielleicht dachte Vogelfänger, er wolle das Mädchen entführen, mit zurücknehmen in irgendein Reich des Todes jenseits des vereisten Flusses.
    Das bin ich, der
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