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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Autoren: Tad Williams
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Gewicht des Fellumhangs zu schwach zu sein. »Heute nacht werde ich eine Geschichte erzählen, und der mit dem Namen Flußgeist wird gut über die Menschen denken, die ihm zu essen gegeben haben.«
    Der ganze Stamm trat heran, und die am nächsten waren, setzten sich Dunkler Mond zu Füßen. Viele nutzten die Gelegenheit, Paul genauer in Augenschein zu nehmen. Er sah Furcht und Sorge in den meisten Gesichtern, doch nur bei Vogelfänger war eine Angespanntheit zu erkennen, die unter Umständen in Gewalt umschlagen konnte. Die übrigen vom Menschenstamm sahen ihn an, wie manierliche Kunden einen geistig Verwirrten von der Straße betrachten mochten, der unmotiviert durch die Ladentür getreten war, aber noch keine Anstalten machte, herumzukrakeelen oder Sachen umzustoßen.
    Erschöpft von der Aufregung und die Bäuche voll gebratenem Fleisch waren einige der kleineren Kinder schon eingeschlafen, doch ihre Eltern und Hüter nahmen sie einfach auf dem Arm mit zu der Versammlung, weil sie sich etwas so offensichtlich Wichtiges nicht entgehen lassen wollten. Vogelfänger, der letztlich doch nicht mißtrauisch genug war, um fernzubleiben, stellte sich an den äußeren Rand des Kreises, und obwohl er Paul immer noch böse Blicke zuwarf, hörte auch er zu.
    »Ich werde euch von den vergangenen Tagen erzählen.« Die Stimme von Dunkler Mond nahm einen Singsangton an, und selbst Paul konnte die Befriedigung über einen vertrauten rituellen Anfang nachempfinden. »Das waren die Tage, bevor die Väter eurer Väter und deren Väter in der Welt wandelten.«
    Als sie eine kurze Pause machte, stellte er eine unerwartete Spannung bei sich fest. Trotz seiner Vorbehalte, seiner Skepsis, konnte er sich, in dieser kalten Höhle kauernd, nur schwer dem Gefühl verschließen, daß er hier an einem Urquell des Geschichtenerzählens saß, daß ihm die Gnade zuteil wurde, einer der ältesten Sagen überhaupt lauschen zu dürfen.
     
    »In jenen Tagen damals«, begann Dunkler Mond, »war alles dunkel. Es gab kein Licht, und es gab keine Wärme. Die Kälte war überall, und der Urmann und die Urfrau litten. Sie gingen zu den andern Urmenschen, den ganzen Tieren, und fragten sie, was sie tun konnten, um sich warm zu halten.
    Langnase riet ihnen, sich am ganzen Leib zu behaaren, wie er es getan hatte. Weil er so groß war, dachten der Urmann und die Urfrau, daß er sehr alt und sehr weise sein müsse, aber so sehr sie sich auch anstrengten, sie konnten nicht genug Haare sprießen lassen, um warm zu bleiben. Da tötete der Urmann den großen Langnase und stahl sein haariges Fell, und ein Weilchen litten sie nicht mehr.
    Bald aber wurde die Welt noch kälter, und selbst das Fell, das sie Langnase abgenommen hatten, reichte nicht aus, um sie warm zu halten. Da gingen sie zur Höhlenmutter und fragten sie, wie sie wohl warm bleiben konnten.
    ›Ihr müßt ein tiefes Loch im Berg finden‹, sagte die Höhlenmutter, ›und dort könnt ihr geschützt vor dem Beißewind wohnen, wie ich es tue, und eure Jungen aufziehen.‹
    Aber der Urmann und die Urfrau konnten kein eigenes Loch finden, und so töteten sie die Höhlenmutter und zogen selber in ihr Loch, und ein Weilchen litten sie nicht mehr.
    Und noch immer wurde die Welt kälter. Der Urmann und die Urfrau kauerten sich in ihrer Höhle zusammen und zogen ihre Felle fest um sich, doch sie wußten, daß sie bald sterben mußten.
    Eines Tages sah die Urfrau den winzigen Nacktschwanz durch die Höhle flitzen. Sie fing ihn mit der Hand und wollte ihn aufessen, denn sie hatte großen Hunger, aber Nacktschwanz erklärte ihr, wenn sie ihn nicht verschlänge, würde er ihr etwas Wichtiges mitteilen. Sie rief den Urmann herbei, damit auch er hörte, was Nacktschwanz zu sagen hatte.
    ›Ich werde euch ein großes Geheimnis verraten‹, sagte Nacktschwanz. ›Gelbauge, der dort draußen im furchtbaren kalten Dunkel wohnt, hat ein Zauberding, ein Ding, das sich im lindesten Wind neigt und doch nicht wegweht, das keine Zähne hat und doch einen harten Baumast fressen kann. Dieser Zauber ist ein warmes Ding, das die Kälte fernhält, und an ihm liegt es, daß die Augen des alten Gelbauge in der Dunkelheit hell leuchten.‹
    ›Was kümmert uns das?‹ sagte der Urmann. ›Er wird uns dieses warme Zauberding niemals überlassen.‹
    ›Wir könnten ihn überlisten und es ihm stehlen‹, sagte die Urfrau. ›Haben wir nicht auch Langnase sein Fell und der Höhlenmutter ihr Haus abgenommen?‹
    Der Urmann sagte nichts.
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