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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Autoren: Tad Williams
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wie um das Foto eines langverstorbenen Angehörigen. Er wurde kaum benutzt, Gespräche führte sie bildlos. Oma Jonas hatte der visuellen Kommunikation nie ganz über den Weg getraut, vor allem nicht der Behauptung, sie könne, wenn sie wolle, andere sehen, ohne von ihnen gesehen zu werden, und bei dem Gedanken, jemand Fremdes könnte bei ihr ins Haus hineinschauen und sie im Nachthemd sehen, wurde ihr, wie sie es ausdrückte, »ganz schwummerig, Paulie-Schatz, total schwummerig«.
    Trotz ihres Mißtrauens gegen die moderne Welt, oder vielleicht sogar zum Teil deswegen, hatte Paul sie schrecklich lieb gehabt, und sie ihrerseits hatte ihn geliebt, wie nur eine Großmutter es konnte. Jeder kleine Erfolg auf seinem Lebensweg war ein strahlender Sieg, jeder Verstoß gegen elterliche Autorität ein Zeichen von Klugheit und Unabhängigkeit, die unterstützt und nicht verurteilt werden wollten. Wenn der kleine Paul in einem seiner Anfälle zielloser Rebellion sich weigerte, beim Abtrocknen zu helfen oder sonst eine Arbeit im Haus zu machen (und dafür keinen Nachtisch kriegte), kam Oma Jonas später am Abend an die Tür seines Gefängniszimmers, steckte ihm heimlich etwas Süßes zu und huschte atemlos wieder nach unten, bevor seine Eltern ihre Abwesenheit bemerkten.
    Als er sieben war, gab es den großen Schneewinter. Es war Englands weißeste Weihnacht seit Jahrzehnten, und die Sensationsnetze überschlugen sich, weil jedes die phantastischsten Bildberichte bringen wollte – die Saint Paul’s Cathedral mit einer weißen Narrenkappe, Schlittschuhläufer auf der unteren Themse wie zu elisabethanischen Zeiten (viele kamen ums Leben, weil das Eis nicht dick genug war). In den ersten Wochen, vor den Horrormeldungen wie »Neues Atlantiktief bringt Schneesturminferno« und den täglichen Totenstatistiken (mit Bildern von jeder einzelnen Leiche), die angaben, wie viele Leute erfroren waren, weil sie draußen geschlafen oder einfach an den kleineren Stationen auf den Zug gewartet hatten, lösten die starken Schneefälle bei den meisten Leuten, und ganz gewiß bei dem kleinen Paul, eine unbändige Freude aus. Es war seine erste richtige Erfahrung mit Schneeballwerfen und Schlittenfahren und kalten Überraschungen, die einem von den Ästen der Bäume in den Kragen rutschten, mit einer Welt, die mit einemmal fast sämtlicher Farben beraubt war.
    An einem milden Tag, als die Sonne schien und der Himmel weitgehend blau war, hatten er und seine Großmutter einen Spaziergang gemacht. Der jüngste Schneefall hatte alles zugedeckt, und während sie langsam über die Felder gingen, sahen sie keinerlei Zeichen anderer Menschen außer dem Rauch aus einem fernen Schornstein und keine Fußspuren als die ihrer eigenen Gummistiefel, so daß das Landschaftspanorama vor ihnen urtümlich wirkte, unberührt.
    Als sie schließlich an einer Stelle zwischen den Feldhecken ankamen, wo sich vor ihnen ein sanftes Tal auftat, blieb seine Großmutter abrupt stehen. Sie breitete die Arme aus, und mit einer Stimme, die er bei ihr noch nie gehört hatte, leise und doch leidenschaftlich hingerissen, sagte sie: »Sieh nur, Paulie, ist das nicht herrlich! Ist das nicht vollkommen! Es ist, als wären wir wieder am Anfang der Zeit. Als ob die ganze sündige Welt es nochmal von vorne versuchen dürfte.« Und die geballten Fäustlinge ans Gesicht gepreßt wie ein Kind, das sich etwas wünscht, fügte sie hinzu: »Wäre das nicht wunderbar?«
    Überrascht und ein wenig erschrocken über die Heftigkeit ihrer Reaktion hatte er sich bemüht, ihr Erlebnis zu teilen, doch es war ihm nicht gelungen. Gewiß, die Illusion der Leere, der unbegrenzten Möglichkeit hatte etwas Schönes. Aber anders als eine Großmutter lebt ein siebenjähriger Junge nicht mit dem Gefühl, die Menschen hätten alles zugrunde gerichtet, und er war durchaus noch klein genug gewesen, um den Gedanken einer Welt ohne vertraute Orte und Leute, einer Welt klarer, kalter Einsamkeit, beunruhigend zu finden.
    Lange hatten sie so gestanden und die unbewohnte Winterwelt betrachtet, und als sie schließlich umkehrten – und zu Pauls heimlicher Erleichterung in ihren eigenen entgegenkommenden Fußspuren gingen, den Pfad der Brotbröcklein aus dem beschwerlichen Wald der Erwachsenenklagen zurückverfolgten –, hatte seine Großmutter grimmig vor sich hingelächelt und ein Lied gesungen, das er nicht richtig verstehen konnte.
     
    Paul hatte an jenem Tag vor so langer Zeit vergebens versucht, ihr
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