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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Autoren: Tad Williams
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die Antwort schlummern mochte, aber im Gegensatz zu den absonderlichen Fahrten durch imaginäre Landschaften konnte keine noch so große Konzentration diesen einen dunklen Fleck in irgendeiner Weise erhellen.
    Läuft-weit kauerte immer noch neben ihm, und unter den Brauenwülsten blitzte die Neugier aus den runden Augen. Verlegen und verwirrt zuckte Paul mit den Achseln, griff sich eine Handvoll Schnee und zerdrückte sie zwischen den krebsartigen Zangen seiner rohen Fäustlinge. Gehirnwäsche würde erklären, wieso er in einem zugefrorenen prähistorischen Fluß aufgewacht und von authentisch aussehenden Neandertalern gerettet worden war – die Kostüme und Kulissen für eine entsprechende Halluzination wären nicht sehr kostspielig. Aber sie konnte nicht das absolut und unbestreitbar reale und anhaltende Vorhandensein der Welt um ihn herum erklären. Sie konnte nicht den Schnee in seiner Hand erklären, kalt und körnig und weiß. Sie konnte nicht den Fremden neben ihm erklären, mit seinem andersartigen, aber ganz zweifellos vom Leben gezeichneten Gesicht.
    So viele Fragen, aber nach wie vor keine Antwort. Paul seufzte und ließ den Schnee aus der Hand fallen.
    »Werden wir heute hier übernachten?« fragte er Läuft-weit.
    »Nein. Es ist nicht mehr weit bis dorthin, wo die Menschen wohnen. Wir werden dort sein, bevor es richtig dunkel ist.« Der Jäger beugte sich vor, runzelte die Stirn und starrte Paul in den Mund. »Du ißt, Flußgeist. Essen alle Leute aus dem Land der Toten?«
    Paul lächelte traurig. »Nur wenn sie Hunger haben.«
     
    Läuft-weit, dessen stämmige Beine ihn mit erstaunlicher Leichtigkeit durch den Schnee trugen, ging an der Spitze; wie alle Jäger, selbst der furchtbar verwundete Weint-nie, bewegte er sich mit der instinktiven Geschmeidigkeit eines wilden Tieres. Obwohl sie jetzt etliche hundert Kilogramm Hirschfleisch zu schleppen hatten, folgten die anderen ihm nicht minder flink, so daß Paul alle Mühe hatte, Schritt zu halten.
    Er rutschte auf einem verschneit am Boden liegenden Ast aus und wäre gestürzt, wenn der Mann neben ihm nicht blitzschnell zugepackt und ihn festgehalten hätte, bis Paul wieder Tritt gefaßt hatte; die Hände des Neandertalers waren hart und rauh wie Baumrinde. Pauls Verwirrung wuchs. Angesichts solch schlagender Argumente konnte er seine Zweifel unmöglich aufrechterhalten. Auch wenn diese Männer nicht ganz so aussahen wie die übertrieben dargestellten Höhlenmenschen aus den Filmen seiner Kindheit, waren sie doch so deutlich von einem anderen, einem wilderen und einfacheren Schlag als er, daß er seine Skepsis aufgab; sie verschwand jedoch weniger, als daß sie in eine Art Winterschlaf versank, um wieder zu erwachen, sobald sie ihm zu etwas nutze sein konnte.
    Ein Ton, der wie Wolfsgeheul klang, hallte den Hang hinunter. Die Jäger vom Menschenstamm schritten noch etwas schneller aus.
    Nichts um dich herum ist wahr, und dennoch kann das, was du siehst, dich verletzen oder töten, hatte das goldene Juwel, die Stimme aus der Harfe, zu ihm gesagt. Wer oder was diese Männer auch waren, ob echt oder vorgespiegelt, sie waren in dieser Welt in einer Art und Weise zuhause, wie Paul es ganz offensichtlich nicht war. Er war notgedrungen auf sie angewiesen. Um seiner geistigen Gesundheit willen war es vielleicht geraten, davon auszugehen, daß sie genau das waren, was sie zu sein schienen.
     
     
    > Als er ein kleiner Junge war, als er noch »Paulie« gerufen wurde und seinem exzentrischen Vater und seiner kränkelnden Mutter unterstand, hatte er jedes Weihnachten mit ihnen im Landhaus seiner Großmutter väterlicherseits in Gloucestershire verbracht, in dem waldigen Hügelland, das die Einheimischen gern »das wirkliche England« nannten. Aber es war gar nicht wirklich gewesen, durchaus nicht. Sein Reiz bestand gerade darin, daß es etwas symbolisierte, was es niemals richtig gegeben hatte, ein kleinbürgerliches England von einer idyllischen, ländlichen Schönheit, deren tatsächliche Fadenscheinigkeit mit jedem Jahr deutlicher zutage trat.
    Für Oma Jonas war die Welt außerhalb ihres Dorfes mit der Zeit immer schattenhafter geworden. Sie konnte die Verwicklungen eines Nachbarschaftsstreites über einen Zaun mit der Kompetenz eines Rechtsexperten im Nachrichtennetz darstellen, aber hatte Mühe, sich zu erinnern, wer Premierminister war. Natürlich besaß sie einen Wandbildschirm – einen kleinen, altmodischen, mit barockem Goldrahmen an der Wohnzimmerwand
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