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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe
Autoren: Gabriela Jaskulla
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»Babylonische Sprachverwirrung« darstellte. Den Begriff merkte sich Julia damals, und jetzt fiel er ihr wieder ein, jetzt, während dieser merkwürdigen Reise, die sie in etwas führte, was ihr gänzlich unbekannt und seltsam ungreifbar schien. Sie schüttelte den Gedanken ab. Wie viel selbstsicherer war sie doch als Kind gewesen, damals, bei Goldnüssens. Sie hatte sich wichtig gefühlt, im Begriff, eine Eroberung zu machen, sie traute sich hinunter in den brodelnden, hüpfenden, johlenden Erwachsenenabgrund, denn der Lärm würde sie beschützen.

    »I’ve got my back/Run to the station/Railman says, you’ve got the wrong location... I said I’m travelling on the one after nine’o nine/I said move over honey/move on twice...«

    Und da waren Frau Goldnüssen und ihre Mutter und hielten sich an den Händen. Eine Art Ringelreihen für Erwachsene schien das zu sein, ungewohnt, aber lustig. Julia hüpfte mit, und als die beiden Frauen an ihr vorbeisprangen wie eine etwas zu kurzgeratene, aber quicklebendige Schlange, da erwischte sie gerade noch die linke Hand von Frau Goldnüssen, die mit den vielen Bernsteinringen, und … »O Gott, schon wieder dieses Kind!« hörte sie Frau Goldnüssen plötzlich rufen, trotz des Lärms, ganz klar und deutlich, und diese Frau schüttelte sie von ihrer Hand ab, als wäre Julia eine tote Fliege. Es wurde ganz kalt in ihrem Kopf und ganz still. »Julia!« sagte ihre Mutter streng und aus ihrer Ausgelassenheit gerissen, »Julia!«, aber da war sie schon zur Türe hinaus, die Treppe hinauf, über den Rasen mit den
plötzlich ganz scharfen Halmen gerannt, weiter, weiter, verfolgt von den bellenden Hunden, und nur heim, nur heim.
    Noch immer schämte sich Julia, wenn sie an diese Episode dachte. Ein Grundgefühl der Unbehaglichkeit hatte sich damals bei ihr eingestellt, das Gefühl, sich nie ganz am richtigen Ort zu befinden. Immer schien alles richtig gewesen zu sein, bevor sie kam, zur Unzeit, oder nachdem sie zu früh gegangen war. Irgend etwas paßte nicht, wie bei einem Puzzle-Stück, das eigentlich in eine ganz bestimmte Lücke gehörte, aber trotzdem ein bißchen klemmte, man mußte es verbiegen - und dann krumpelte es und stand vor, und jeder sah, daß es so nicht richtig war. Und vielleicht war es ja dieses Grundgefühl, das dazu führte, daß sie immerzu überall anstieß, gegen Wände und Türen lief, Entfernungen falsch einschätzte, letzte Treppenstufen übersah oder in ihrer Vorstellung dazuerfand. Ein Grundkrumpelgefühl.
    Manchmal dachte sie, daß sie sich deshalb dieses Fettpolster zugelegt hatte, das sie so haßte. Vor allem um die Hüften und den Hintern herum beulte und knäulte es sich, während die Beine, kräftig, aber gerade und keineswegs formlos waren und der Oberkörper von starken, jedoch überraschend schlanken Schultern und einem ebensolchen Hals abgeschlossen wurde. Nein, mit den Armen konnte Julia sich verteidigen, konnte gestikulieren beim Sprechen, konnte abwehren und überzeugen, sich, wenn nötig, die ganze Welt vom Leibe halten. Nur im äußersten Notfall gestattete sie sich über ihre Gesten hinaus eine einzige scharfe Bemerkung, und dann verstummte selbst ihr vorlauter Bruder. Aber in solchen Augenblicken mochte sie sich nicht, sie zog es vor, einfach nur dazusein, abwartend, passiv, die Arme verschränkt. Mit ihrem Kopf war Julia Völcker einverstanden, mit ihrer Fähigkeit, sich auszudrücken, da hatte sie alles im Griff. Nur der Bauch, der empfindliche und immer unruhige, immer verlangende Bauch! Vom Magen an wurde es
kritischer, da ließ ihre Konstitution sie im Stich, und darum wohl diese beruhigenden Polster, die ihr in den Augen der Freundinnen etwas Sanftmütiges, Robbenhaftes gaben.
    Julia hatte viele Freundinnen, weil sie anderen Frauen keine Angst einflößte. Gutmütig hörte sich Julia ihre Ratschläge an, die darauf zielten, daß sie Sport treiben, eine Diät machen, mehr unter die Leute gehen solle - und wußte genau, daß das Gerede über Veränderung letztlich ein Spiel war, das im Laufe der Jahre feste Regeln angenommen hatte, über die keiner mehr sprach. Denn ihre Freundinnen liebten sie so: weich und nachgiebig und ungefährlich.

    Sie sah sich um: Mit niemandem hier hätte sie wirklich gern ein Wort gewechselt.
    Eine Gruppe von Rauchern saß zusammen, ein paar Männer, auf dem Heimweg offenbar. Die hatten sich stumm und selbstverständlich nebeneinandergesetzt auf die Bänke in der Mitte, und kaum waren sie losgefahren,
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