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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe
Autoren: Gabriela Jaskulla
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Fähre und Bus. Das übliche Gefühl des Sich-Entfernens wollte sich partout nicht einstellen, und ein Abenteuer war das hier schon gar nicht. Es waren Alltagsstrecken, die Julia benutzte, Pendlerstrecken, Zweckstrecken, kein Mensch achtete auf die Landschaft; im Bus starrten die Leute mit seltsam blicklosen Augen auf den Nacken des Vordermanns, und schon die vorbeiziehenden Hecken und Weiden zu beobachten, kam Julia unpassend vor. Als würde sie in fremde Fenster schauen, um sich ein Bild vom Wohnzimmer
der Leute zu machen. Niemand schaute zur Seite, niemand wandte sich um, wenn ein Fahrgast ausstieg. Alle schienen sich bestens auszukennen, schienen Fahrpläne, Verbindungen, Streckennetze im Kopf zu haben. Und Julia, die bei jedem Umsteigen unsicherer wurde und mehr und mehr fröstelte, wurde bewußt, wie sehr sie nicht hierhergehörte. Kein Fremder gehörte hierher. Hier war man offenbar seit Jahrhunderten unter sich geblieben und hatte auch niemanden vermißt. Gewiß, niemand musterte sie neugierig im Bus, auch nicht, als sie, wiederum als einzige, nach dem Fahrpreis fragte, aber gerade das irritierte sie. Die Leute zeigten deutlich, daß sie sich nicht für sie, Julia, interessierten, daß sie keine Rolle spielte.
    Und dieses Gefühl kannte Julia von Kindesbeinen an: Schön, daß du da bist, hatte Großmutter Evi gesagt - um sich sofort wieder dem kleinen Bruder zuzuwenden. »Du warst ein Wunschkind«, behauptete ihre Mutter und fügte hinzu, daß nach ihrer Geburt nichts mehr gewesen sei wie vorher. Wenn Julia fragte, was sich denn geändert habe, sagte die Mutter: »Na, eben alles!« Und konnte sich genau an ihre Neigung zu geschwollenen Beinen erinnern, die sie seit damals mit Zinktabletten und Unmengen grünen Tees bekämpfte. Seit einigen Jahren roch das Haus fremd und gesund, und es schien unvorstellbar, daß Vater und Mutter jemals zu Rock’n’Roll johlend Polonäsen getanzt hatten, im Partykeller, mit den Nachbarn und daß sie dazu »Grüne Chartreuse« getrunken hatten.
    Und doch hatten sie es getan, hatten oft davon erzählt, und einmal hatten sie sogar später noch einen solchen Ausbruch riskiert. Julia war dabei gewesen, im neu eingerichteten Keller der Goldnüssens, Nachbarn, die wohlhabender waren als die eigenen Eltern, neben ihren zwei halbwüchsigen Söhnen mehrere Jagdhunde besaßen und außer dem blitzenden Mercedes auch noch einen Zweitwagen für die
Dame des Hauses, den ersten Zweitwagen des Ortes. Und von Goldnüssens Ältestem wurde behauptet, er rauche Haschisch, es rieche immer so merkwürdig aus seinem Zimmer, das er, der Älteste, Uwe, seine »Bude« nannte und meist verdunkelt hielt. Julia fand Uwe aufregend, aber das bemerkte der natürlich nicht, und wenn er es doch bemerkte, dann ignorierte er es. Goldnüssens also hatten eingeladen, und Julia war durch die dröhnende Musik angelockt worden. Sie lief nacheinander über zwei genau gleich kurzgeschorene, gleich leuchtendmittelgrüne Rasenflächen, tätschelte einen der nutellafarbenen Hunde und ging durch die offene Tür ins Haus. Altdeutsch nannte man diese Art der Einrichtung, das wußte Julia und wunderte sich jedes Mal aufs neue, warum dazu nicht auch Ritterrüstungen und Schatztruhen gehörten.
    Die Kellertüre war nur angelehnt, die messingfarbene Türklinke klebrig, jemand hatte Goldfischlis verstreut auf der Schwelle. Von unten herauf klang Frauenlachen, dröhnte die Musik. Musik, die alle verrückt fanden und zu der sie immer und auf der Stelle tanzen mußten:

    »I said move over once/Move over twice/Come on, baby, don’t be as cold as ice/I said I’m travelling on the one after nine o’ nine …«

    Normalerweise schimpfte ihr Vater immer auf diese Halbstarken und daß sie alles auf Englisch singen mußten: »Die ganze Sprache wird verhunzt!« Und wenn Mutter einwandte, daß Liverpool schließlich in England liege, dann parierte er: »Wenn die hier singen, können sie auch unsere Sprache lernen! Ich sage ja auch ›Thank you‹, wenn ich drüben was kaufe!« Tat er nicht, wie Julia wußte. Denn er war ja nie »drüben«, er war noch in überhaupt keinem »Drüben« gewesen! Aber jetzt tanzte er mit Frau Goldnüssens
pummeliger Cousine, deren Haare vom unglaublichsten Goldblond waren, das Julia je gesehen hatte. Ihre hochtoupierte Frisur wankte bedenklich, als Vater und sie umeinander herumhopsten. Wie der runde Turm auf einem etwas merkwürdigen Bild, das ein Onkel Julia mal geschenkt hatte und das, wie er meinte, die
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