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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe
Autoren: Gabriela Jaskulla
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du müde bist, wirst du erst immer so philosophisch!« beschwerte sich Jeanette oft. Denn sie mochte die andere, die nächste Phase von Julias Müdigkeit
lieber: Wenn zu der Mattigkeit noch die Wirkung von ein paar Gläsern Rotwein kam, dann war Julia in der Lage, sämtliche Heinz-Erhardt-Gedichte auswendig vorzutragen. Immer nur Heinz Erhardt, sie wußte selbst nicht, warum.
    Nun, diese zweite Phase würde sie hier nicht erreichen, denn ewig konnte diese Passage doch nicht dauern? Passage. Ein schönes, altmodisches Wort. Julia sammelte solche Wörter, die beinahe ausgestorben waren, zumindest aber gefährdet. Und das, obwohl es keinen gleichwertigen Ersatz für sie zu geben schien, für die Wörter nicht und auch nicht für die Zustände, die sie beschrieben. Passage. Müßiggang. Boudoir. Im Englischunterricht hatte sie sehr an »nevertheless« gehangen, weil das Wort immer einen kleinen sprachlichen Abhang hinunterzukollern schien und umständlicher und deshalb richtiger wirkte als ein simples »but« oder das ebenso schnippische deutsche »trotzdem«. Julia brauchte immer mehr als eine Silbe, um sich gegen etwas zu entscheiden, um gedanklich kehrtzumachen, etwas Neuem entgegen.
    Mit dem soeben erstandenen Bier in der Hand ging Julia nach hinten, stemmte sich gegen die schwere Glastür, und dann traf es sie schlagartig, gewaltig, düster: der Geruch von zäher, bleierner Feuchtigkeit, in die sich Diesel mischte und Maschinenöl. Ein handgreiflicher Geruch, der ihr die Kehle füllte und zum Husten reizte. Wie ein fremdes Gewürz. Beißend. Endlich fühlte sie die Reise. Endlich fühlte sie das Schiff.

    Hier draußen hörte es sich anders an: Das Stampfen des Motors klang nun nicht länger behäbig und langweilig wie ein ausrangierter Linienbus. Wacker und entschlossen schoben sie durch die See. Die See! Die blieb allerdings weiterhin nahezu unsichtbar, denn Wellen konnte Julia keine entdecken, nur weiße Gischtlinien im bleifarbenen Wasser.
Der Bodden, das wußte Julia, war gerade tief genug, daß man darin ertrinken konnte, und sie stellte sich vor, wie Schiffe an den sandigen Untiefen hängenblieben, steckenblieben im Schlick. Lust, darin zu schwimmen, machte so ein seichtes Gewässer nicht. Es schien Julia kein Wasser, um Spaß darin zu haben, kein Meer zum Zeitvertreib, sondern ein merkwürdiges, dumpfes Ding, eine unbestimmbare Masse, zum Leben erwacht weit vor dem Menschen. Man mußte es kennen, dieses Meer, um auf ihm zu fahren, es verlangte Wissen, Erfahrung, einen kühlen Verstand und Geduld, unendlich viel Geduld. Keine Eile zählte, kein noch so ernsthaftes Anliegen und Sehnsüchte schon gar nicht. Das Meer kam und ging nach seinem eigenen Gutdünken, und Julia fragte sich, woher es diese Selbstgewißheit nahm, diesen Hochmut.
    Ich weiß Bescheid, du, sagte Julia und trat mit dem Fuß ein bißchen in Richtung des Wassers, ich weiß Bescheid, mir machst du nichts vor.
    Julia mußte sich eingestehen: Sie hatte etwas anderes erwartet, deshalb war sie nun enttäuscht. Dabei hatte sie es doch geschafft, sie hatte eine Forschungsstelle bekommen, wenn auch befristet, wenn auch im hintersten Winkel der Republik, wenn auch - im Osten.
    Julia Völcker, die Landratte. Sie mußte über sich lachen. Julia Völcker, die leider etwas birnenförmig geratene wissenschaftliche Hoffnung des germanistischen Fachbereichs, hatte es tatsächlich so weit gebracht, trotz diverser zeitraubender Nebenjobs und trotz diverser leider nicht ganz so zeitraubender Liebschaften ihr Studium zu beenden, und hatte nun, in endloser Verlängerung der Adoleszenz, wie der Vater sagen würde, eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft gefunden. Für ein Jahr. Auf einer Insel, deren Namen sie bis dahin nur gelesen hatte in Verbindung mit ihrem Dichter.
    Minchen meine Traute
Spiel auf meiner Laute
Minchen du mein Tausendschön
Beschenkt sollst du nach Hause gehn!
Minchen hoppe-hopp!
    Ihr Dichter! Julia hörte Jeanette schon wieder kichern. So viele Monate hatte Julia mit dem längst verstorbenen, unbekannten Mann verbracht, daß er ihr näher und vertrauter erschien als so mancher Kommilitone. »Typischer Fall von Realitätsverlust!« pflegte Jeanette zu seufzen, aber nicht ohne Neid, denn Julia, das gab auch Jeanette zu, hatte wirklich immenses Glück mit ihrem Thema gehabt. Ihr Dichter war jung gestorben, an einer chronischen und daher unheilbaren Bauchspeicheldrüsenentzündung, am Suff mit anderen Worten, und dieser frühe Genietod
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