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Ostseefluch

Titel: Ostseefluch
Autoren: Eva Almstädt
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halten durften. Er hat sie uns genommen, bevor sie auch nur die Chance auf einen Atemzug hatte. Eine »stille Geburt« haben die Ärzte es genannt – und dich hat er mir dadurch ebenfalls genommen. Deshalb wollte ich ihm auch noch seine Geliebte nehmen, aber es hat nicht sollen sein ...
    Ich hätte nie gedacht, dass ich zu so etwas fähig bin. Einen Menschen zu töten. Aber das denkt wohl jeder von sich, bis es so weit ist. Als ich zu dem Haus kam, wo Milena sich aufhielt, als ich zum ersten Mal einen Fuß hineingesetzt habe, war mir schlagartig klar, dass ich es tun würde: Rache üben.
    Ich habe viel über die Veränderung, die da in mir vorgegangen ist, nachgedacht. Man hat im Gefängnis Zeit zum Nachdenken, und die Gedankenwelt ist das Einzige, was hier nicht beschränkt ist, was einem keiner nehmen kann. Außerdem ist mir mit dir und unserer Tochter ja schon alles genommen worden.
    Glaubst du, dass es magische Orte gibt? Orte, an denen Dinge geschehen, die woanders vielleicht nicht passieren würden? Wenn es das gibt, dann ist Mordkuhlen so ein Ort. Du warst zum Glück nie dort. Es sieht in dich hinein, ergründet deine geheimen Wünsche und zerrt sie in dein Bewusstsein. Ich glaube, die Entscheidung, es tatsächlich zu tun und es nicht nur bei einem Gedankenexperiment zu belassen, ist gefallen, als das Haus von mir Besitz ergriffen hat. Mordkuhlen. Ein ganz und gar abweisendes, ja fast würde ich sagen BÖSES Haus. Ich weiß, du kannst nicht mehr lachen, aber so, wie ich es formuliere, hätte es dich früher zum Lachen gebracht. Und mich vielleicht auch. Doch wir wissen beide: Es gibt Ereignisse, nach denen ist nichts mehr, wie es war.
    Meine Reaktion auf das Haus hat mich neugierig gemacht. Der Roman über Mordkuhlen und den Fluch waren nicht länger ein Vorwand. Ich wollte wissen, was wirklich dort passiert ist.
    Inzwischen denke ich nicht mehr, dass der Vater, Karl-Heinz Bolt, seine Frau und seine beiden Töchter umgebracht hat. Ich weiß, dass es sogenannte Familiendramen gibt, aber der Mann kam gerade erst von einer langen Seereise nach Hause. Es gab offenbar keine Ereignisse, die das auf die Schnelle ausgelöst haben können. Und ich habe genau recherchiert. Ich meine, da muss sich doch erst etwas aufstauen. Und die ermordeten Mädchen waren sein eigen Fleisch und Blut. Ich hab mich also gefragt, wer das sonst getan haben konnte. Und dabei musste ich an Löwen denken, die ja auch den Nachwuchs einer Löwin totbeißen, wenn es nicht ihr eigener ist. Ob es vielleicht einen anderen Mann gegeben hat?, fragte ich mich.
    Und dann bin ich bei meinen Recherchen im Archiv durch einen Zufall auf einen alten Film vom Kinderfest ’85 in Weschendorf gestoßen. Das Fest fand kurz vor dem Mord statt. Auf dem Film war eine Frau zu sehen, die der Anita Bolt auf den mir bekannten Fotos sehr ähnlich sah. Sie war eine Schönheit damals. Stell dir vor, es zeigt sie mit einem anderen Mann, mit dem sie zu diesem Zeitpunkt offensichtlich in einen Streit verwickelt war.
    Diesen Mann zu finden war nicht ganz einfach. Ich musste allerlei Archivfotos durchgehen. Aber die Welt auf einer Insel ist klein und war damals noch viel kleiner. Anita Bolt hat auf dem Film Streit mit einem ihrer Nachbarn. Der Mann hieß Josef Hillmer, wie ich herausgefunden habe. Er lebt nicht mehr, doch er war der Vater von Judith Ingwers! Wenn man sich auf der Insel ein wenig umhört, erfährt man nichts Gutes über den alten Hillmer und sein aufbrausendes Temperament. Ich wusste sofort, dass das kein Zufall ist: Milena Ingwers war nicht nur die Tochter eines Mörders, sondern auch die Enkeltochter eines Mörders. Doppelte Schuld – in einem einzigen Wesen vereint. Es war ihr Schicksal, dass sie ausgerechnet an dem verfluchten Ort, dem Schauplatz des ersten Verbrechens, gestrandet ist.
    Gestern war hier übrigens Besuchstag. Ich konnte wählen zwischen einmal eine Stunde im Monat oder zweimal eine halbe. Ich habe mich für Letzteres entschieden. Wir sitzen dann alle in dem Raum, in dem auch die Andachten stattfinden. Vor fünfzehn Tagen war Helge Bittner bei mir. Erinnerst du dich an meinen alten Freund und Kollegen Helge? Wir wussten überhaupt nicht, worüber wir miteinander reden sollten. Es war mir sofort klar, dass er mich nicht verstehen würde. Aber gestern hat mich ein Typ namens Aleister besucht, und stell dir vor, er sieht das alles ähnlich wie ich! Und ich dachte schon, ich werde hier langsam verrückt. Er nennt es nicht »Schicksal« oder
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