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Ostseefluch

Titel: Ostseefluch
Autoren: Eva Almstädt
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Milena rufen? Das zum Haus gehörende Grundstück war riesig, vielleicht hatte sie ihn nur nicht gehört. Milena musste irgendwo in der Nähe sein. Sie kam ja gar nicht weg von hier. Ihr Fahrrad war kaputt, und ein Auto besaß sie nicht. Dass sie sich zu Fuß auf den Weg gemacht hatte, konnte er sich auch nicht vorstellen. Wo hätte sie auch hingehen sollen? Zu ihren Eltern, die im selben Dorf wohnten, gewiss nicht.
    Hinter den Büschen weiter hinten bewegte sich was. Eine Sturmmöwe flatterte auf, dann noch eine. Ihre Schreie klangen heiser, fast vorwurfsvoll. Patrick folgte dem platt getrampelten Pfad in den hinteren Teil des Gartens. Über dem angrenzenden Feld flirrte die Luft vor Hitze. Es raschelte hinter dem Gebüsch. Patrick vernahm weitere Möwenschreie. Sicher, das Grundstück lag in direkter Ostseenähe, aber was passierte dahinten? Fütterte Milena etwa die Vögel? Oder hatte sie etwas Essbares liegen gelassen? Unsinn. Sie interessierte sich nicht für Tiere, sie hatte sogar Angst vor ihnen. Das eine Mal, als er sie mit ins NABU Wasservogelreservat Wallnau genommen hatte, um Vögel zu beobachten, hatte sie am Vögeln mehr Interesse gezeigt als an Vögeln. Er lächelte über das Wortspiel und umrundete das Gebüsch, hinter dem sich der kleine Gemüsegarten befand.
    Da sah er sie. Milena lag mit dem Gesicht nach unten in der trockenen Erde ihres quadratischen Beetes. Sie ist nur bewusstlos, dachte Patrick, das kommt von dieser verdammten Hitze – ein Kreislaufkollaps. Aber dann würden die Vögel doch nicht ... Und da waren auch Fliegen. Patrick wollte zu ihr laufen, doch er konnte sich nicht bewegen. Eine Silbermöwe landete neben dem reglosen Körper seiner Freundin. Dann pickte sie an Milenas Kopf herum. Er musste unbewusst irgendeinen Laut ausgestoßen haben, jedenfalls wich die Möwe widerstrebend zurück und flog dann auf. Erst da erkannte Patrick, was das Tier angelockt hatte: Milenas Hinterkopf war ... verletzt. Durch ihr feucht glänzendes Haar sah er Blut, Knochensplitter und etwas Graues, an dem eine flaumige, weiße Feder klebte. Ein paar Sekunden lang stand Patrick wie erstarrt da und versuchte, die Bilder, die er sah, zu einem logischen Ganzen zusammenzufügen. Dann wurde ihm schlecht.
    Der Fundort der Leiche lag einen guten Kilometer von dem Dorf Weschendorf auf Fehmarn entfernt. Pia Korittki, Kriminalkommissarin bei der Bezirkskriminalkommission in Lübeck, war im Anschluss an einen Termin in Neustadt zu diesem Einsatz gerufen worden. Sie lenkte ihren Privatwagen über die holprige Piste und fluchte leise, als die Stoßdämpfer des alten Citroën knirschten. Die Dächer des Ortes Weschendorf verschwanden schon wieder hinter Knicks und Bäumen, aber das Gebäude, das Pia suchte, war noch nicht in Sicht. Der- oder diejenige, die das Haus in die Landschaft gesetzt hat, muss ein großer Naturfreund und ein noch größerer Menschenfeind gewesen sein, dachte sie, als sie schon wieder unsanft aufsetzte.
    Der mit Schlaglöchern übersäte Feldweg endete an einem windschiefen Gatter. Keine Hausnummer, aber ein rostiges Schild am Zaun, das vor dem bissigen Schäferhund warnte. Es waren erst zwei Streifenwagen, ein Leichenwagen und auch nur wenige andere Autos zu sehen. Pia erkannte Horst-Egon Gablers blauen Audi. Er war der Leiter des K1 und ihr Vorgesetzter, also befand sie sich an der richtigen Adresse.
    Sie wusste noch nicht viel: Einer der Bewohner, ein Mann namens Patrick Grieger, hatte gegen Mittag die Polizei verständigt, weil er im Garten des Hauses die Tote gefunden hatte. Es handelte sich seinen Angaben zufolge um eine seiner Mitbewohnerinnen. Milena Ingwers war ihr Name. Als sich die Besatzung eines Streifenwagens aus dem nahen Burg auf Fehmarn davon überzeugt hatte, dass sie es tatsächlich mit einem Tötungsdelikt und nicht etwa den Folgen eines Sonnenstichs zu tun hatten, war auch das Kommissariat 1 der Bezirkskriminalinspektion Lübeck informiert worden.
    Pia Korittki sprach einen uniformierten Kollegen an, der am Gatter den Zugang kontrollierte, und wies sich aus. Dann umrundete sie das Haus, um zum Fundort der Leiche zu kommen. Das Gebäude hatte seine Glanzzeit augenscheinlich schon vor dem Ersten Weltkrieg hinter sich gehabt. Von der Fassade bröckelte in tellergroßen Stücken der Putz und zeigte bedenkliche Risse. Die Fenster waren zum Teil blind, bei anderen waren die Scheiben gesprungen, eines im Obergeschoss hatte man notdürftig mit einer Platte Sperrholz repariert. Den
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