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Ostsee-Storys

Ostsee-Storys

Titel: Ostsee-Storys
Autoren: Michael Augustin
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werden. Die hätten ihm das bestimmt nicht erlaubt, bis in die Fahrrinne rauszuschwimmen, schon allein wegen der Wahnsinnsströmung und wegen des Schiffsverkehrs. Aber nun war es natürlich zu spät. Aus ihrem Sohn war eine Wasserleiche geworden. In derselben Nacht schlief ich schlecht und träumte krauses Zeug. Komm mir ja nicht als Wasserleiche nach Haus!, hörte ich meine Mutter im letzten Traum schimpfen und war sofort hellwach. Schweißgebadet, klitschnass, als hätte man mich gerade aus dem Meer gezogen.

Donnerkeile
    G eh nicht immer so krumm, Junge!, sagt meine Mutter. Aber wie soll ich nicht krumm gehen, wo doch meine Augen wie zwei Suchscheinwerfer auf den Spülsaum gerichtet sind und dort jedes Steinchen abtasten, weil ich es, wie immer am Strand der Ostsee, auf Donnerkeile abgesehen habe. Und seien sie noch so klein oder fragmentarisch. Die schönsten sehen aus wie Geschosse: vorne spitz zulaufend, Miniaturraketen oder Patronen, wie sie der legendäre Wyatt Earp abgefeuert haben könnte im Wilden Westen. Angeblich soll es der nordische Gott Thor gewesen sein, der die Donnerkeile zu Tausenden vom Himmel regnen lassen konnte, sooft er wollte oder einen Grund dazu hatte, wenn die Menschen wieder mal so richtig Mist gebaut hatten. Aber natürlich weiß ich längst, dass es sich bei Donnerkeilen in Wirklichkeit um Versteinerungen handelt, um Fossilien, wie mein Klassenlehrer Herr Böhme erklärte, als ich ihm einmal nach den großen Ferien meine tollsten Fundstücke präsentiert hatte, darunter ein sage und schreibe sechs Zentimeter langes Stück, das fast schon aussah wie ein Flakgeschoss. Meinte jedenfalls Herr Böhme.
    Die Dinger stammen von Belemniten, urzeitlichen Tintenfischen, die vor hundert oder zweihundert Millionen Jahren gelebt haben. In der Schublade zu Hause jedenfalls, in meiner Mansarde, horte ich über zweihundert mehr oder weniger komplette Donnerkeile, und damit es noch mehr werden, muss ich immer krumm gehen und gucken, dass ich keinen übersehe, auch hier nicht, am Strand von Pelzerhaken in der Neustädter Bucht, wo zwei ostpreußische Verwandte von uns leben, in einem ziemlich abenteuerlichen Häuschen, eigentlich eher einer Hütte direkt am Wasser. Zwar habe ich während des Spaziergangs mit meinen Eltern schon vier oder fünf Donnerkeile aufgespürt, aber dann entdecke ich plötzlich den Knochen, von dem zunächst nur ein Stückchen aus dem nassen Sand hervorlugt, der sich dann jedoch, nachdem ich ihn freigelegt habe, als so ziemlich der größte Knochen erweist, den ich je gesehen habe. Guck mal, sage ich zu meiner Mutter, ein Riesenfossil – und schwinge den Knochen wie ein Neandertaler. Leg den sofort wieder weg, sagt mein Vater, das ist kein Spielzeug, und erzählt etwas von Schiffen, Passagierschiffen, die draußen in der Bucht versenkt worden sind im Mai 1945, als der Krieg noch nicht ganz zu Ende war. Tausende von Toten, sagt er. Und noch bis vor ein paar Jahren hätten die Leute recht häufig die Polizei gerufen, wenn die Ostsee nämlich wieder einmal einen Schädel an Land gespült hatte. Auch er selber hätte dann ab und an hingemusst, als junger Polizist. Nun ist mir doch recht unheimlich zumute, als wir den Knochen, wohl einen Oberschenkelknochen, wie mein Vater sagt, an Ort und Stelle im Sand vergraben, bevor wir unseren Spaziergang fortsetzen und ich, statt mich wieder auf die Donnerkeile zu konzentrieren, alle paar Schritte stehen bleibe, um zurückzublicken auf die Stelle, der aber gar nichts anzumerken ist. Und woher soll ich wissen, dass ich gut vierzig Jahre später einmal einen alten Herrn namens Benjamin Jacobs kennenlernen werde, der die Katastrophe in der Lübecker Bucht überlebt hat, die irrtümliche Bombardierung des KZ-Schiffes Cap Arcona durch englische Flugzeuge. Benjamin Jacobs, der zuvor in Auschwitz gewesen war, der die Todesmärsche und Transporte überstanden hatte und die Evakuierung auf das Schiff, einer der ganz wenigen, die es damals geschafft haben, von der brennenden Cap Arcona oder der Thielbek in die Ostsee zu springen und an Land zu schwimmen, anders als ihre weit über sechstausend Kameraden, die verbrannt sind, ertrunken oder von Bord der Suchschiffe aus noch im Wasser erschossen wurden. Aber das ist eine andere Geschichte, die man nachlesen kann in Benjamin Jacobs` Buch Der Friseur von Auschwitz .



Flaschenpost
    Als ich meinem Opa mit der aufregenden Nachricht entgegenstürme, ich hätte morgens am Strand in Travemünde eine Flaschenpost
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