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Ostsee-Storys

Ostsee-Storys

Titel: Ostsee-Storys
Autoren: Michael Augustin
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Das Boot, unsere besegelte Nussschale, die Höltzmanns großem Bruder gehört, sitzt fest. Im Schlick des Uferstreifens. Des falschen Uferstreifens wohlgemerkt, auf DDR -Gebiet, in der Ostzone, in Mitteldeutschland, wie wir in der Schule sagen müssen, weil es ja außerdem auch noch Ostdeutschland gibt, das jetzt der Pole hat und der Russe. Es hilft nichts! Wir müssen aussteigen, um das Boot wieder flottzukriegen! Ach was, um zu verhindern, dass es von den Vopos beschlagnahmt wird, dass wir in ihre Fänge geraten, festgenommen und ins Landesinnere entführt werden, zu stundenlangen Verhören, eingesperrt auf unbestimmte Zeit und dann irgendwann vielleicht einmal freigelassen gegen ein unglaubliches Lösegeld. Oder die fackeln gar nicht lange und legen uns jetzt gleich um als Grenzverletzer! Die kriegen das fertig! Höltzmann weiß das und sagt kein Wort, ich weiß das ebenfalls und sage auch nichts. Wir stehen bis zu den Knöcheln im Schlamm und puschen das Boot ins tiefere Wasser, wobei ich einen meiner nagelneuen Adidas-Laufschuhe verliere, der einfach im Schlamm stecken bleibt. Aber das ist mir jetzt völlig egal. Und natürlich übernimmt jetzt Höltzmann die Pinne, als wir endlich wieder Fahrt machen, schweigend und bleich wie das Segeltuch, das in der Brise knattert, als wäre es der Feuerstoß aus einer Kalaschnikow.

Wikinger für Jorge Sagastume
    In Haitabu finden gerade wieder Ausgrabungen­ statt, als ich mit Jobst Hoppe, der in der Schule neben mir sitzt, vor dem Nydam-Boot stehe, das aus der Zeit noch vor den Wikingern stammt und vor hundert Jahren aus einem Moor nördlich von Flensburg geborgen werden konnte von Leuten wie Professor Neugebauer, der in Lübeck Stadtarchäologe ist und den ich persönlich kenne, seit ich einmal nach Schulschluss stundenlang am Rand einer Baugrube in der Innenstadt herumlungerte, ihm beim Buddeln zusah und mit Fragen auf die Nerven ging, bis er mir schließlich einen Spachtel und eine Bürste in die Hände drückte und mich zu meiner freudigen Überraschung bat, ihm zu helfen. Das da haben wir zwar alles schon durchgeguckt, sagte er, aber vielleicht findest du ja noch was . Worauf ich mich überglücklich daranmachte, den geheimnisvollen lehmigen Inhalt des mittelalterlichen Lübecker Plumpsklos mit aller gebotenen Sorgfalt zu durchsuchen. Ein paar grüne Glassplitter habe ich entdeckt, jede Menge Kirschkerne und Teile eines Holztellers, wie Professor Neugebauer nach kurzem Hinsehen feststellte, während er mir anerkennend über das Haar strich. Und wenn deine Eltern es erlauben, dann kannst du morgen nach der Schule wiederkommen! Was ich selbstverständlich tat und was mein Verhältnis zur bisherigen lebenslangen, eigentlich zweckfreien Buddelei nachhaltig ändern sollte. Denn jetzt wollte ich natürlich Ausgräber werden, Archäologe, und habe mit meiner Begeisterung auch gleich noch Jobst Hoppe angesteckt, mit dem ich nun während unseres Schulausfluges gerade fachmännisch das alte Nydam-Boot, das wie ein Wikingerschiff aussieht, betrachte, im Schloss Gottorf bei Schleswig, wo es auch Moorleichen anzugucken gibt, die zu Lebzeiten bestimmt mit ihren nun seit Jahrhunderten verschrumpelten Augen noch echte Wikinger gesehen haben! Worum wir sie aus tiefstem Herzen beneiden, denn größere Verehrer der Wikinger, als wir es sind, das ist uns glasklar, gibt es auf der ganzen Welt nicht!
    Fast fünfzig Jahre später werde ich es einmal besser wissen, als ich eine Biografie des fabulösen argentinischen Poeten Jorge Luis Borges lese und dabei erfahre, dass er just in jenem Jahre 1964 während eines Deutschlandbesuchs, als er eigentlich an einem internationalen Kongress in Berlin teilnehmen soll, der ihn aber schrecklich langweilt, seine Begleiter darum anfleht, ihn doch bitte von diesen Qualen zu erlösen und ihn stattdessen im Auto nach Schleswig-Holstein zu kutschieren. In der Nähe von Schleswig, dort, wo die Schlei sich zum Meer hin öffnet, so wird berichtet, sei er, der alte, blinde Poet, dann aus dem Auto geklettert, habe sein Gesicht tief einatmend zur Ostsee gewandt, sei mit weit ausgebreiteten Armen, ohne einen Moment zu zögern, in voller Montur und ohne seine schwarzen Lederschuhe abzustreifen, bis zum Wasser vorgegangen, sei dort im von sanften Wellen überspülten Sand auf die Knie gesunken, habe seine Hände ins Meer getunkt und mit lauter und leidenschaftlicher Stimme ein angelsächsisches Gedicht in den Wind hineindeklamiert. Ein Gedicht über die
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