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Ort der Angst (German Edition)

Ort der Angst (German Edition)

Titel: Ort der Angst (German Edition)
Autoren: Mala Wintar
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zu lockern. Ehe er das Werkzeug wieder aufnahm, strich er behutsam über das Material. Er liebte sein Handwerk. Zu wissen, dass er etwas fortsetzte, das seine Vorväter begonnen hatten, erfüllte ihn mit großem Stolz. Seit sein kleiner Sohn laufen konnte, nahm er ihn regelmäßig zu den heiligen Stätten mit und zeigte ihm, welche der Statuen aus der Werkstatt seiner Ahnen stammten. Schon bald wollte er dem Jungen die ersten Handgriffe der Steinbearbeitung beibringen. Der Handwerker blinzelte. Seine Familie bedeutete ihm alles. Um sie zu schützen, würde er jedes Opfer bringen. Voller Beklemmung dachte er an die Befragung im Palast; der Älteste schien ihm trotz seiner Blindheit direkt in die Seele geblickt zu haben. Das Gefühl, ein schmutziger Verräter zu sein, machte sich in seinem Bewusstsein breit. Was hätte er sonst tun sollen? Ihm blieb keine Wahl!
    Der Handwerker versuchte, seine Gedanken zu verdrängen und richtete den Blick erneut auf die vor ihm liegende Steinplatte. Als er sie berührte, schien die Darstellung zu verschwimmen. Um die Müdigkeit zu vertreiben, rieb er seine brennenden Augen. Bis das Relief des Quetzalcoatl Teil der Tempelanlagen werden konnte, musste er noch viele Tage und Nächte daran arbeiten.
    Er legte die Hand auf das staubige Werkstück, nahm mit der anderen einen der feineren Meißel auf und ließ ihn über eine unsaubere Kante gleiten, um sie zu glätten. Die Spitze blieb an einer Unebenheit hängen. Er setzte mehr Kraft ein, aber das Material wollte nicht nachgeben. Als er aus der Schulter heraus noch mehr Druck ausübte, rutschte er ab und stach sich die Werkzeugspitze seitlich in das Gelenk seiner linken Hand. Erschrocken zuckte er zusammen. Wie konnte ihm so etwas passieren? Er kam sich wie ein Anfänger vor!
    Er spürte keinen Schmerz, nichts. Langsam zog er den Fremdkörper aus der Wunde und sah mit unerklärlicher Faszination zu, wie das Blut herausfloss. Als es glitzernd auf seine Arbeit tröpfelte, bildete es zunächst eine Lache, fand dann einen Weg in das Relief hinein und folgte dem Lauf der Konturen. In zunehmender Benommenheit nahm er wahr, wie Risse die Oberfläche durchzogen. Das Material wölbte sich und knirschte, ganze Brocken platzten ab. Nach und nach schälte die Götterschlange die Windungen ihres Leibes aus dem Gestein und wandte ihm den Kopf zu. Das Gefieder drohend aufgerichtet, öffnete sie ihr zahnbewehrtes Maul und zischte ihn böse an.
    Voller Entsetzen sprang der Mann auf und presste die verletzte Hand an seine Brust. Die Wunde blutete heftig und begann zu pochen.
    Das Knarren der Werkstatttür ließ ihn aufblicken. Sie stand jetzt offen. Der Wind brachte etwas von dem Regen mit sich. Gerade genug, um die Schwelle zu benetzen. Aber etwas anderes kam ebenfalls mit herein; eine vermummte Gestalt löste sich aus der Dunkelheit.
    Sich seinem Schicksal ergebend ließ der Steinmetz die Hände sinken.
    „Bei den Göttern! Seid Ihr gekommen, um mich zu strafen?
    Der Fremde trat ein und schloss die Tür.

 
     
    Kapitel 6
     
    Nach über einer Woche ununterbrochenen Regens drifteten die letzten Wolkenreste auseinander. Die Sonne tauchte das Land in goldenes Licht und trocknete mit ihren Strahlen die Straßen und Gebäude der Stadt.
    Aus seiner nächtlichen Starre erwacht, flog ein Kolibri über die Dächer und steuerte zielsicher auf eine der Terrassen des Palastes zu. Üppige Blumen wuchsen dort dicht an dicht und lockten das Geschöpf mit ihrem süß duftenden Nektar herbei. Prüfend huschte der Vogel von einer Pflanze zur nächsten und wandte sich dabei in alle Richtungen. Das morgendliche Licht ließ sein buntes Gefieder prachtvoll glänzen. Für das menschliche Auge fast zu schnell, surrten die Flügel des Winzlings durch die Luft, als er vor einer der Blüten verharrte und seine Zunge in den Kelch tauchte.
    Der Schrei einer Frau gellte aus dem Inneren des Palastes und setzte der Idylle ein Ende. Verschreckt unterbrach der Vogel seine Futtersuche und ergriff die Flucht. Für einen Moment blieb er noch als winziger Punkt gegen das Blau des Himmels erkennbar. Dann war er fort.
    „Er schläft? Willst du mich zum Narren halten?“ Xaman blickte den Alten an, als wolle dieser ein böses Spiel mit ihm treiben. Der aber breitete ratlos die Hände aus und zuckte mit den Achseln.
    „Ich kann nicht mehr dazu sagen! Geh hin und überzeug dich selbst!“
    Das tat er auch. Seine Hände teilten den transparenten Vorhang, der den hinteren Bereich des
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