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Orchideenstaub

Orchideenstaub

Titel: Orchideenstaub
Autoren: Tanja Pleva
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Unverständliches vor sich hin.
    „Würden Sie mir erklären, was Sie sehen?“
    „Sieht aus wie eine … na ja, wie eine Art Werkstatthalle“, sagte Estelle und half Sam aus dem Wagen, während Juan Carlos Brenners Rollstuhl ausklappte und ihn reinsetzte.
    Ein kleiner dicklicher Mann erschien an der blauen Stahltür und verlangte nach ihren Ausweisen. Nach sorgfältiger Durchsicht reichte er ihnen ein paar Besucherausweise und ließ sie eintreten. Es war merklich kühler hier drin als draußen und Sam fing an zu frieren.
    „Was sehen Sie jetzt, Estelle?“
    „Ich sehe vor uns eine Anlage wie in einer Reinigung, wo man durch einen Knopfdruck die Kleider an einer Schiene in Bewegung setzt, bis die richtige Nummer an einem vorbeikommt.“
    Sam versuchte, sich dieses bizarre Bild einer Leichenhalle auszumalen. Er hatte zwar schon Morgues gesehen, die ganz und gar nicht den deutschen Vorschriften entsprachen, aber das hier war dann doch außerhalb seiner Vorstellungskraft.
    „Die Leichen hängen in so Kleidersäcken an einem Haken“, erklärte Brenner weiter, „wie Schweine nach der Schlachtung.“
    Ein Angestellter kam auf sie zu und gab Brenner ein Zeichen, ihm zu folgen. Sie schienen durch eine weitere Tür zu treten, denn plötzlich wurde es noch kälter. Sam fröstelte inzwischen. Das Geräusch von Generatoren drang an sein Ohr.
    Estelle hielt Sams Arm fest und führte ihn neben sich her. Trotz der Kälte, die irgendwie eine Frische vermittelte, roch es hier nach Blut, menschlichen Exkrementen und Tod. Säuerlich, verfault und süßlich.
    Ein neues Geräusch kam hinzu. Etwas setzte sich schwerfällig in Bewegung. Wahrscheinlich das Leichenkarussell, dachte Sam und hoffte, dass er nicht allzu dicht an irgendwelchen toten Menschen stand. Die Anlage stoppte, ein Reißverschluss wurde geöffnet.
    „No. No es. Bleiben nur noch zwei kleine Negerlein“, hörte Sam Brenner sagen und erinnerte sich an den alten Kinderreim, in dem von zehn kleinen Negerlein am Ende keiner mehr übrig war.
    „Seien Sie froh, dass Sie das hier nicht ansehen müssen, O’ Connor. Das würden Sie Ihr Lebtag nicht vergessen.“
    „Machen Sie ein paar Fotos für mich. Damit ich später weiß, dass meine Fantasie nicht mit mir durchgegangen ist.“
      Nachdem jemand die Anlage ein zweites Mal in Betrieb setzte und stoppte, hörte er jemanden sagen: „Cientouno. Un mono joven.“
    Einhunderteins. Blond und jung. Würde er Juri als jung bezeichnen, fragte sich Sam. Das stand immer in der Relation, wer die Frage stellte. Er selbst würde ihn schon als jung bezeichnen. Ein Zwanzigjähriger nicht. Sam versuchte an etwas anderes zu denken. Neben ihm atmete Estelle laut aus. Zu laut, dachte Sam und sein Herz schien für einen Moment stillzustehen.
    „Mein Gott …“, hörte er sie sagen. „Ich dachte erst … der Kopf, die Haare … Es tut mir leid, wenn ich Ihnen einen Schrecken eingejagt habe“, entschuldigte sie sich.
    „Da war es nur noch einer“, sagte Brenner.
    Die nächste Leiche im Sack war ein dunkelhaariger junger Mann und hatte ebenfalls keine Ähnlichkeit mit Juri. Im Stillen dankte Sam Gott im Himmel. Er wollte daran glauben, dass sein Gebet erhört worden war.
    Sie waren gerade wieder auf den Weg in die Klinik, als Nelly anrief. Man hatte Juri anscheinend gefunden, zumindest entsprachen alle Angaben seinem äußeren Erscheinungsbild, bis auf eine kleine Tatsache.
    Verwahrloste Obdachlose, halb nackte Verrückte, Verstümmelte ohne Beine, die sich auf Skateboardbrettern fortbewegten oder Drogenabhängige, die auf einem Trip waren, waren nichts Ungewöhnliches in Medellin. Aber dass ein nackter blonder Ausländer vor den Augen aller sich ein riesengroßes Stück Fleisch vom Haken einer Fleischerei klaute und es wie ein wilder Kannibale genüsslich auf der Straße vertilgte, ließ den Besitzer sofort die Polizei rufen, zumal man von so einem eine Entschädigung erwarten konnte. Als die Polizei Juri jedoch in einen Polizeiwagen verfrachten wollte, schlug er erst einmal einen Beamten nieder und rannte weg, woraufhin eine Jagd nach ihm durch die Innenstadt mit drei Motorrädern und vier Beamten zu Fuß folgte.
    Juan Carlos erklärte Sam, dass die Droge starke Halluzinationen hervorrufen konnte und Juri kein Einzelfall war. Man konnte von Glück reden, dass er überhaupt gefunden worden war, denn so mancher Ausländer war nach einem solchen Trip nie wieder aufgetaucht.
     
     

66.
     
     
     
    Eine Vibration, gefolgt von einer
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