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Opus 01 - Das verbotene Buch

Titel: Opus 01 - Das verbotene Buch
Autoren: Andreas Gößling
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wussten, dass er, von Kronus ausgesandt, auf dem Weg nach Nürnberg war, dann musste ihnen doch genauso bekannt sein, wo Kronus wohnte, wo er all die Schriftwerke hortete und an seinem
Buch der Geister
schrieb.
    Amos überlegte hin und her, aber das Ganze ergab keinen Sinn für ihn. Wenn er doch zumindest die erste Geschichte im
Buch der Geister
schon gelesen und »vollkommen in sich aufgenommen« hätte, wie dies laut Kronus erforderlich war – dann könnte er mit dem weisen Gelehrten jetzt auf magischem Weg in Verbindung treten. Ganz zu schweigen von den weiteren Geschichten, deren Wirkung nach Kronus’ Worten noch tausendmal wundersamer war. Doch bisher hatte Amos noch keine einzige Zeile aus dem
Buch der Geister
zu lesen bekommen, und so musste er sich mit seinem eigenen Geist begnügen, und der jagte nur immer wieder ohne eine Lösung zu finden im Kreis.
    Endlich siegte die Erschöpfung – die Glocken hatten schon zur dritten Nachtstunde geschlagen, als Amos in unruhigen Schlaf fiel.
    Er kam zu sich, als er erneut eine tastende Hand unter seinem Wams spürte. Dazu leise keuchenden Atem knapp über seinem Gesicht und etwas Fadendünnes, das ihm kitzelnd über Stirn und Wangen strich – das filzige Haar jenes flachsblonden Dreckskerls? Wie gelähmt lag er da, außerstande, einen Finger zu rühren. Zu sehen war überhaupt nichts – am Abend hatte der Wirt die Fenster mit Holzläden verrammelt, bevor er das Licht ausgelöscht hatte. Sogar das Atmen fiel Amos schwer, und nur sein Herz schlug wie rasend. Vielleicht träumte er das alles ja bloß, und wenn es ihm jetzt gelang, sich aus dem Traum herauszureißen, würde wieder alles in Ordnung sein?
    Endlich konnte er die Erstarrung abschütteln. Er tastete unter sein Wams und fand den Brief, wo er ihn vorhin verstaut hatte, daneben das leise klirrende Münzsäckchen. Mit der Hand fuhr er über sich in der Luft herum, aber da war niemand. Sollte er aufstehen, durch die Stube tappen, über die Füße der Schlafenden stolpern, im Stockfinsteren nach dem Burschen suchen? Nein, das hatte keinen Sinn – entweder er hatte alles nur geträumt oder der Kerl war längst über alle Berge. Mit weit offenen Augen und klopfendem Herzen lag Amos im Dunkeln und wünschte sich nur noch, dass es endlich Tag werden würde.
    Als er schließlich wieder auf Kronus’ Rappen saß und zwischen Bardo und Marek weiter auf der Landstraße in Richtung Nürnberg trabte, fühlte er sich so müde und zerschlagen, als ob er die halbe Nacht mit dem dreckigen Diebskerl gekämpft hätte. Erst als gegen Mittag die gewaltige Stadt Nürnberg mit unzähligen gleißenden Türmen und Dächern vor ihm aus der Ebene emporwuchs, da erwachte er allmählich aus dumpfer Benommenheit und Grübelei.
    Mit einem Lachen versuchte Amos die düsteren Gedanken zu vertreiben. Hier in Nürnberg konnte niemand außer ihm selbst und jenem Setzer namens Hebedank von dem Brief wissen, den er überbringen sollte. Und wenn er diese Aufgabe erledigt hätte, würde er schnurstracks zum Haus von Tante Ulrika laufen, umendlich seine Schwester Oda wiederzusehen. Seit dem Tod ihrer Eltern lebte Oda hier in Nürnberg, wo die fromme Ulrika ein Heim für mittellose Waisenmädchen leitete.
6
    N
ürnberg war ein Gewirr
aus Wällen und Zinnen, Brücken und Treppen, Gassen und Gräben. Kaum hatte Amos das Stadttor passiert, seine Begleiter samt Pferden in einem Gasthof nahe dem Frauentor zurückgelassen, da verlor er die Orientierung. Düster, eng, stickig war es in der großen Stadt – die oberen Geschosse der Häuser ragten so weit in die Gassen hinein, dass nur wenig Tageslicht bis zum Boden durchdringen konnte. Von der Sonne war überhaupt nichts zu sehen – Amos hätte nicht einmal sagen können, ob er sich gerade nach Westen, Süden oder wohin sonst bewegte.
    Die Leute schoben, drängelten, schubsten. Alles schwatzte, lachte, fluchte durcheinander – Kaufleute in wallenden Umhängen und Handwerker mit schwarzen Hüten, Gaukler und Schausteller in schreiend bunten Kostümen und ehrbare Bürgersfrauen, die mit ihren Dienstmädchen vom Markt zurückkehrten, die Einkaufskörbe mit Gemüse und blutigen Fleischstücken gefüllt.
    So viele Menschen hatte Amos niemals vorher auf einem Haufen gesehen, so viele unterschiedliche Gesichter, Hüte, Mützen, Frisuren, so vielerlei Jackenschnitte, Gehstöcke, Stiefel, Pantinen. Ihm wurde ganz wirr im Kopf, denn von allem und jedem gab es viel zu viel – nur Platz und frische Luft und
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