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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld
Autoren: Ann Cleeves
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Buch, sagte aber nichts dazu.
    «Erzähl mir alles über Abigail, was du weißt.»
    Emma war kein bisschen aufsässig mehr, das hatte der Schock ihr ausgetrieben. Sie wollte einen guten Eindruck machen und fing sofort an zu reden. Zu erzählen gab es schließlich mehr als genug, wenn man einmal damit anfing.
    «Abigail war meine beste Freundin. Als wir hierhergezogen sind, war es echt schwer, so anders, wissen Sie. Wir waren an die Stadt gewöhnt. Abigail hat die meiste Zeit ihres Lebens hier gewohnt, aber sie hat auch nicht so richtig hierhergepasst.»
    Wenn die eine einmal bei der anderen übernachtet hatte, dann hatten sie darüber gesprochen, wie viel sie doch gemein hätten. Dass sie Seelenverwandte seien. Doch selbst damals hatte Emma gewusst, dass das nicht stimmte. Sie waren beide Außenseiter, mehr nicht. Abigail, weil sie keine Mutter mehr hatte und ihr Vater ihr jeden Wunsch erfüllte. Emma, weil sie aus der Stadt kam und ihre Eltern vor dem Essen ein Tischgebet sprachen.
    «Abigail und ihr Dad wohnten ganz allein. Na ja, bis Jeanie einzog, und Abigail konnte sie nicht ausstehen. Sie haben jemanden, der für sie putzt und kocht, aber die wohnt in einer Wohnung über der Garage, und das zählt ja nicht so richtig, oder? Abigails Vater ist ein Geschäftsmann.»
    Dieses Wort beschwor für Emma noch immer den gleichen Zauber herauf wie damals, als sie es zum ersten Mal gehört hatte. Sie musste dabei an das große, elegante Auto denken, mit den Ledersitzen, mit dem sie manchmal von der Schule abgeholt wurden, an Abigail, die sich feingemacht hatte, um mit ihrem Vater und seinen Geschäftsfreunden essen zu gehen, an den Champagner, den Keith Mantel an ihrem fünfzehnten Geburtstag aufgemacht hatte. An den Mann selbst, so gewandt, charmant und aufmerksam. Aber das konnte sie der Frau nicht erklären. Für die war «Geschäftsmann» bestimmt einfach nur ein Beruf. So wie «Bewährungshelfer» oder «Priester».
    «Weiß Abigails Vater es schon?», fragte Emma plötzlich mit einem flauen Gefühl im Magen.
    «Ja», sagte die Kommissarin. Sie sah sehr ernst aus, als sie das sagte, und Emma fragte sich, ob sie wohl diejenige war, die es ihm mitgeteilt hatte.
    «Sie waren sich so nahe», murmelte Emma, aber sie spürte, wie unzulänglich diese Worte waren. Sie sah Vaterund Tochter vor sich, wie sie sich in dem märchenhaften Haus auf dem Sofa aneinanderkuschelten und über eine Serie im Fernsehen lachten.
     
    Sie musste der Kommissarin bei jenem ersten Zusammentreffen noch mehr über Jeanie Long erzählt haben, darüber, wieso Abigail sie nicht hatte ausstehen können, doch die Einzelheiten wollten ihr einfach nicht mehr einfallen, als sie jetzt neben James im Bett lag. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, Christopher vor dem späten Abend noch einmal im Haus gesehen zu haben. Christopher war mittlerweile wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität, er erforschte das Brutverhalten der Papageientaucher und verbrachte jedes Jahr einige Monate auf den Shetlandinseln. Damals war er ihr kleiner Bruder gewesen, eigenbrötlerisch und auf enervierende Weise aufgeweckt.
    Aber war er immer schon so unnahbar gewesen? Vielleicht hatte er sich damals ja auch verändert, obwohl er das Drama nur aus zweiter Hand miterlebt hatte, und ihre Erinnerung trog sie. War er seit dem Umzug nach Elvet so in sich gekehrt und ernsthaft gewesen oder erst nach Abigails Tod? Nach all den Jahren konnte sie das nicht mehr beurteilen. Sie fragte sich, wie viel von jenem Tag er wohl noch wusste und ob er mit ihr darüber reden würde.
    Auf jeden Fall war er in York aufgeschlossener gewesen, und   … sie hielt in Gedanken inne, zögerte, das Wort zu benutzen, sogar ganz im Stillen: aufgeschlossener und
normaler
. Sie erinnerte sich an einen lebhaften kleinen Jungen, der mit seinen Freunden durchs Haus tobte und mit einem Plastikschwert herumfuchtelte oder im Auto auf dem Rücksitz saß und über einen Witz lachte, den er aus der Schule kannte, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen.
    Sie war sich jetzt sicher, dass er an dem Tag, an demAbigail ums Leben kam, auch da gewesen war. Er hatte keinen seiner einsamen Spaziergänge unternommen. Später, als die Kommissarin gegangen war, saßen sie gemeinsam in seinem Zimmer auf dem Dachboden, von dem aus man über die Felder blicken konnte. Der Wind riss eine Lücke in die Wolken, und es war Vollmond. Sie sahen dem emsigen Treiben auf dem Bohnenfeld zu, das Suchlicht der Scheinwerfer
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