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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld
Autoren: Ann Cleeves
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Autos.
    Das erste Lied hatte schon angefangen, und sie folgten dem Pfarrer und den drei alten Damen, aus denen der Chor bestand, den Mittelgang entlang und bildeten so den unwürdigen Abschluss einer ohnehin durcheinandergewürfelten Prozession. Mary rückte auf, um sie auf ihre gewohnten Plätze vorn beim Altar zu lassen. Emma stolperte über die riesige Patchwork-Tasche, die ihre Mutter immer dabeihatte und die zwischen den Reihen stand.
    Erst nachdem sie einen Augenblick lang auf den Knien Atem geschöpft hatte, was als Gebet durchging, und wieder stand, um die letzte Strophe mitzusingen, fiel ihr auf, dass die Kirche besser besucht war als sonst. So voll waren die Kirchenbänke für gewöhnlich nur bei einer Taufe, wenn, wie ihr Vater sie bissig nannte, «die Heiden» kamen.Aber heute wurde niemand getauft, und außerdem kannte sie die meisten Gesichter. Es waren keine fremden Leute, die die Kirche füllten, vielmehr sah es so aus, als hätte sich jeder im Dorf die Mühe gemacht zu erscheinen. In Elvet sorgten schlechte Neuigkeiten immer für Aufregung. Wenn man Jeanie Longs Selbstmord denn als schlechte Neuigkeit betrachten konnte.
    Die arthritisgeplagte Organistin schloss gerade mit einem wackeligen Akkord, als die Tür noch einmal aufging. Der Wind musste sich dahinter gefangen haben, denn die Tür schlug mit lautem Knall zu, und die Gemeinde drehte sich missbilligend um. Ganz hinten in der Kirche stand Dan Greenwood neben einer dicken, äußerst unattraktiven Frau. Obwohl Emma bei seinem Anblick die übliche Erregung durchzuckte, war sie doch enttäuscht, Dan zu erblicken. Sie hatte ihn noch nie in der Kirche gesehen und geglaubt, er würde das Ganze verachten. Was seine Kleidung betraf, hatte er allerdings keine Zugeständnisse gemacht, er trug immer noch die Jeans und den Kittel vom Vorabend. Die Frau hatte ein mit lila Blümchen übersätes sackartiges Kleid und eine flauschige lila Strickjacke an und trug trotz der Kälte flache Ledersandalen an den Füßen. So, wie sie da standen, ging etwas Unheilvolles von ihnen aus, und einen Augenblick lang erwartete Emma eine Bekanntmachung, die Aufforderung, die Kirche wegen eines Feuers oder einer Bombendrohung zu räumen. Selbst der Pfarrer zögerte kurz und sah zu den beiden hinüber.
    Die Frau war jedoch ganz gefasst, sie schien die Aufmerksamkeit sogar zu genießen. Sie nahm Dan beim Arm und zog ihn in eine Bank. Die Vertrautheit dieser Geste stieß Emma auf. In was für einem Verhältnis stand sie zu ihm? Sie war zu jung, um seine Mutter zu sein, keine zehn Jahre älter als er. Aber so unattraktiv, wie sie war, konntendie beiden unmöglich eine Liebesbeziehung haben. Emma mochte noch so unsicher sein, doch sie zweifelte nicht daran, dass sie attraktiv war. Und es stand außer Frage, dass James ihr nie einen Antrag gemacht hätte, wenn sie fett gewesen wäre oder Pickel gehabt hätte. Während des restlichen Gottesdienstes hörte Emma die Stimme der Frau bei den Liedern und Responsorien deutlich heraus. Sie sang hell, laut und ziemlich falsch.
    In der Predigt wurde Jeanie Long nicht erwähnt, und Emma dachte, dass der Pfarrer vielleicht gar nicht von dem Selbstmord erfahren hatte, doch in den Gebeten für die Verstorbenen tauchte ihr Name auf, zusammen mit Elsie Hepworth und Albert Smith. Während Emma, Matthew auf dem Schoß, in der Bank saß und auf die gesenkten Köpfe der knienden Gemeinde niederblickte, versuchte sie, vor ihrem inneren Auge ein Bild von Jeanie aufzurufen. Sie hatte sie nur ein einziges Mal im Haus der Mantels gesehen. Jeanie hatte auf dem Flügel gespielt, den Keith für Abigail gekauft hatte, als diese ein flüchtiges Interesse an Klavierstunden an den Tag gelegt hatte. Eine hochgewachsene, dunkelhaarige junge Frau, sehr konzentriert und ernst über die Tasten gebeugt. Dann war Keith hereingekommen, sie hatte sich umgedreht, und ihre Züge hatten sich zu einem Lächeln entspannt. Jeanie musste damals jünger gewesen sein als Emma heute, gerade mit dem Studium fertig.
    Der Gottesdienst war nun beim Abendmahl angekommen. Robert stand in seinem weißen Chorhemd neben dem Pfarrer vorn beim Altar. Mary war die Erste, die Brot und Wein empfing, dann eilte sie in die Küche, um löslichen Kaffee in Thermoskannen zu löffeln. Die arthritische Organistin kämpfte sich zu ihrem Platz zurück und spielte etwas Sanftes und Melancholisches. Im Mittelgang hatte sich eine Schlange gebildet. Emma gab den Kleinen James,der sich trotz Roberts
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