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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld
Autoren: Ann Cleeves
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brachte seltsame Schatten hervor, die Männer dort unten sahen sehr klein aus. Christopher zeigte auf zwei von ihnen, die sich mit einer Tragbahre durch den Matsch kämpften.
    «Das ist sie bestimmt.»
    Dann stolperte einer der beiden Träger und fiel auf ein Knie, und die Bahre kippte besorgniserregend. Emma und Christopher sahen sich an und stießen ein peinlich berührtes Kichern aus.
     
    Die Kirchturmuhr schlug zwei. Der Kleine schrie im Schlaf auf, als hätte er schlecht geträumt. Emma nickte ein, und dann erinnerte sie sich, ganz als würde sie selbst schon träumen: Die Kommissarin hatte Caroline geheißen. Caroline Fletcher.

Kapitel vier
    Im Anfang war das Wort.
Selbst als Teenager hatte Emma das nicht buchstäblich geglaubt. Wie konnte es ein Wort geben ohne jemanden, der es aussprach? Es war unmöglich, dass das Wort als Erstes kommen sollte. Es hatte ihr auch nie jemand richtig erklären können. Nicht in den Predigten,die sie sonntagmorgens in den gemeinsam mit der Familie besuchten Gottesdiensten über sich ergehen ließ. Nicht an den trostlosen Abenden im Konfirmationsunterricht.
    Ihrer Meinung nach bedeutete der Satz:
Im Anfang war die Geschichte.
Die Bibel bestand nur aus Geschichten. Was sollte also sonst dahinterstecken? Und auch in ihrem eigenen Leben konnte sie nur dann einen Sinn in etwas entdecken, wenn sie eine Geschichte daraus machte.
    Je älter sie wurde, desto ausgefeilter wurden die erträumten Geschichten – aber waren sie denn erträumt?
    Es war einmal eine Familie. Eine ganz gewöhnliche Familie. Die Winters. Mutter, Vater, Sohn und Tochter. Sie wohnten am Stadtrand von York in einem hübschen Haus in einer baumbestandenen Straße. Im Frühling waren die Bäume voller rosa Blüten, und im Herbst färbten die Blätter sich golden. Robert, der Vater, war Architekt. Mary, die Mutter, arbeitete Teilzeit in der Universitätsbibliothek. Emma und Christopher gingen in die Schule am Ende der Straße. Sie trugen eine Schuluniform mit kastanienbraunem Blazer und grauer Krawatte.
    Und während sie sich das nun erzählte, sah Emma den Garten des Hauses in York vor sich: eine Mauer aus rotem Backstein, an die sich eine Reihe Sonnenblumen schmiegte, die Farben so leuchtend, dass ihr fast die Augen wehtaten. Christopher hockte neben einem Terrakottakübel, in dem Lavendel wuchs, in seinen zu einer Kugel geformten Händen hielt er einen Schmetterling gefangen. Sie konnte den Lavendel riechen, und sie hörte auch die aus einem offenen Fenster aufsteigenden Töne einer Flöte, die das junge Mädchen spielte, das gelegentlich vorbeikam, um auf sie aufzupassen.
    Nie wieder werde ich so glücklich sein. Der Gedanke war ungebeten aufgetaucht, aber sie konnte nicht zulassen,dass er Teil der Erzählung wurde. Das war zu schmerzlich. Also fuhr sie mit der Geschichte so fort, wie sie immer erzählt wurde   …
    Dann fand Robert zu Jesus, und alles wurde anders. Er sagte, er könne nicht mehr als Architekt arbeiten. Er gab das alte Büro mit den hohen Fenstern auf und studierte noch einmal, um Bewährungshelfer zu werden.
    «Wieso nicht Pfarrer?», hatte Emma gefragt. Zu jener Zeit gingen sie schon regelmäßig zur Kirche. Sie glaubte, er würde ein guter Pfarrer sein.
    «Weil ich mich dazu nicht berufen fühle», hatte Robert gesagt.
    In York könne er nicht als Bewährungshelfer arbeiten. Es sei ihm nicht bestimmt, dort zu bleiben, und überhaupt fehle das Geld, um das große Haus in der ruhigen Straße zu halten. Also zogen sie nach Osten, nach Elvet, wo das Land flach war und Bewährungshelfer gebraucht wurden. Mary kündigte bei der Universität und nahm einen Job in einer winzigen öffentlichen Bücherei an. Auch wenn sie die Studenten vielleicht vermisste, sagte sie doch nichts. Jeden Sonntag ging sie mit Robert in die Dorfkirche und sang genauso laut mit wie er. Was sie von ihrem neuen Leben in dem zugigen Haus inmitten von Bohnenfeldern und Schlick hielt, das wusste Emma nicht.
    Aber auch das war nicht die ganze Geschichte. Selbst mit fünfzehn wusste Emma, dass es nicht alles sein konnte. Robert war doch nicht einfach in einem Augenblick wundersamer Erleuchtung und rauschender Zimbelklänge zu Jesus bekehrt worden. Dem war etwas vorausgegangen. Etwas hatte ihn verändert. In den Büchern, die sie las, gab es für alles einen Grund. Wie unbefriedigend war es, wenn die Geschehnisse aus heiterem Himmel hereinbrachen, zufällig, ohne jede Erklärung. Es musste etwas passiert seinin Roberts Leben, ein
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