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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld
Autoren: Ann Cleeves
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Schiebefenster. In Gedanken sprach Emma mit Abigail: Siehst du, ich habe mich der Sache gestellt, ich habe mich an alles erinnert, genau so, wie es passiert ist. Darf ich jetzt schlafen? Doch obwohl sie sich eng an James schmiegte, war ihr kalt. Sie versuchte, ihren Lieblingstraum von Dan Greenwood heraufzubeschwören, stellte sich seine dunkle Haut ganz dicht an ihrer vor, doch selbst das entfaltete keinen Zauber.

Kapitel drei
    Was geschehen war, nachdem sie Abigail gefunden hatte, das konnte Emma nicht als eine ihrer Geschichten erzählen. Der Erzählfaden war nicht stark genug. Es war alles zu einem zu großen Kuddelmuddel in ihrem Kopf geworden. Einzelheiten fehlten. Sie hatte damals kaum verstanden, was vor sich ging. Im Schockzustand hatte sie sich auf nichts mehr konzentrieren können. Selbst heute noch tauchte das Bild der kalten, stummen Abigail immer dann vor ihrem inneren Auge auf, wenn sie es am wenigsten erwartete. An jenem Abend, dem Abend, nachdem sie dieLeiche gefunden hatte, als sie alle in der Küche von Springhead House saßen, hatte es sich in ihren Gedanken eingenistet, es lähmte ihre Wahrnehmung und ließ alle Fragen wie von sehr weit her kommen. Und es war schuld daran, dass ihre Erinnerungen zusammenhanglos und unzuverlässig waren.
    Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, dass sie mit ihrer Mutter zurück nach Hause gegangen war, doch sie sah sich am Hintereingang zögern, weil sie ihrem Vater nicht gegenübertreten wollte. Sie hatte es immer schon gehasst, ihn zu enttäuschen. Vielleicht hatte er sich gerade noch eine Standpauke zurechtgelegt, als er sie kommen hörte, doch die vergaß er schnell. Mary nahm ihn beiseite, den Arm um seine Schultern gelegt, und erklärte ihm im Flüsterton, was passiert war. Einen Augenblick lang stand er wie versteinert da. «Nicht hier», sagte er. «Nicht in Elvet.» Er drehte sich um und schloss Emma in die Arme, sodass sie seine Rasierseife riechen konnte. «Niemand sollte so etwas sehen müssen», sagte er. «Nicht mein kleines Mädchen. Es tut mir so leid.» Als wäre er auf irgendeine Weise schuld daran, als hätte er sie davor beschützen müssen. Dann wickelten sie sie in die kratzige Decke, die sie immer zum Picknicken benutzten, und riefen bei der Polizei an. In ihrem Schockzustand hatte sie das Gefühl, dass Robert, nachdem er einmal begriffen hatte, was geschehen war, das Drama ziemlich genoss.
    Doch als dann die Kommissarin eintraf, um mit Emma zu reden, merkte er wohl, dass seine Anwesenheit nur störte, und ließ die drei Frauen in der Küche allein. Das musste ihm schwergefallen sein. Robert war in Krisenzeiten immer zur Stelle, er kümmerte sich um alle möglichen Notfälle: um seine Schützlinge, die sich vor seinem Büro die Pulsadern aufschnitten oder psychotische Anfälle bekamenoder die Kaution hatten verfallen lassen und nun auf der Flucht waren. Emma fragte sich, ob er seine Arbeit deshalb so liebte.
    Vielleicht war mit der Kommissarin auch noch jemand anders nach Springhead House gekommen, der nun im Nebenzimmer mit Robert sprach, denn hin und wieder, während sie sich abmühte, die Fragen der Kommissarin zu beantworten, meinte Emma, gedämpfte Stimmen zu hören. Doch bei dem Heulen des Windes war das schwer zu sagen. Möglich, dass ihr Vater mit Christopher sprach und sie sich die dritte Stimme nur einbildete. Christopher musste an jenem Tag jedenfalls da gewesen sein.
    Mary goss Tee auf in der großen braunen Steingutkanne, und sie setzten sich an den Küchentisch.
    «Im Haus ist es so kalt», hob Mary an. «Hier haben wir wenigstens den Herd   …» Und ausnahmsweise funktionierte der einmal vorschriftsmäßig und spendete etwas Wärme. Den ganzen Tag über war das Kondenswasser die Fenster heruntergelaufen und hatte auf den Fensterbänken kleine Seen gebildet. Damals kam Mary noch nicht mit dem Herd zurecht und trat ihm jeden Morgen gegenüber, als zöge sie in die Schlacht, wobei sie leise ein Gebet vor sich hin murmelte: Bitte heiz dich heute auf. Bitte geh mir nicht aus. Bitte bleib lange genug heiß, dass ich Essen kochen kann.
    Doch der Kommissarin war offenbar immer noch kalt. Sie behielt den Mantel an und umklammerte ihren Teebecher mit beiden Händen. Sie musste Emma vorgestellt worden sein, aber ihr Name war Emmas Gedächtnis entwischt, kaum dass er einmal ausgesprochen war. Sie erinnerte sich daran, dass sie dachte, die Frau müsse bei der Polizei sein, obwohl sie in Zivil war und so chic gekleidet, dass es Emma
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