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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld
Autoren: Ann Cleeves
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gegenüber immer schuldig, auch wenn sie überhaupt nichts falsch gemacht hatte?
    Sie stieß mit dem Fuß gegen einen Flintstein und stolperte. Tränen und Rotz verschmierten ihr das Gesicht. Einen Augenblick lang blieb sie, wie sie war, auf Händen und Knien. Beim Versuch, sich abzufangen, hatte sie sich die Handflächen aufgeschürft, aber hier unten, näher am Boden, konnte sie wenigstens einfacher atmen. Dann dachte sie, wie lächerlich sie doch aussehen musste, aber an einem Nachmittag wie diesem war wohl kaum noch jemandunterwegs, der sie sehen konnte. Der Sturz hatte sie wieder zur Vernunft gebracht. Am Ende würde sie ja doch nach Hause gehen und sich dafür entschuldigen müssen, dass sie sich so aufgespielt hatte. Je eher, desto besser.
    Neben dem Feld verlief ein Entwässerungsgraben. Als sie sich wieder hochrappelte, packte der Sturm sie erneut mit ganzer Kraft, und sie wandte sich gegen den Wind. Und da blickte sie in den Graben und sah Abigail. Die Jacke erkannte sie zuerst – eine blaue Steppjacke. Emma hatte auch so eine haben wollen, doch ihre Mutter war entsetzt gewesen, als sie gesehen hatte, wie teuer die war. Abigail erkannte Emma nicht. Sie glaubte, dass es jemand anders sein müsse, dass Abigail ihre Jacke einer Cousine oder Freundin geliehen habe, jemandem, den Emma nicht kannte. Dieses Mädchen hier hatte ein hässliches Gesicht, und Abigail war nie hässlich gewesen. Und sie war auch nie so still gewesen, Abigail redete pausenlos. Dieses Mädchen hier hatte eine geschwollene Zunge und blaue Lippen und würde nie wieder reden. Nie wieder flirten oder sticheln oder spotten. Das Weiß der Augen war rot gesprenkelt.
    Emma war wie erstarrt. Sie sah sich um und erblickte ein schwarzes Stück Plastik, an dem der Wind zerrte, es sah aus wie eine riesige Krähe, die über dem Bohnenfeld flatterte. Und dann tauchte wie durch ein Wunder ihre Mutter auf. Emma, die bis zum Horizont blicken konnte, hätte fast glauben können, ihre Mutter sei der einzige andere lebende Mensch im ganzen Dorf. Sie kämpfte sich auf dem Trampelpfad zu ihrer Tochter vor, das ergrauende Haar unter die Kapuze ihres alten Anoraks gesteckt, Gummistiefel unter dem Sonntagsrock. Das Letzte, was Robert gesagt hatte, als Emma aus der Küche stürzte, war: «Lass sie ruhig gehen. Einmal muss sie es ja lernen.» Er war nicht laut geworden. Er hatte ganz geduldig gesprochen,sogar freundlich. Mary tat immer, was Robert ihr sagte, und der Anblick ihrer Gestalt gegen den grauen Himmel, pummeliger noch als sonst, so dick hatte sie sich gegen die Kälte eingepackt, erschreckte Emma fast ebenso sehr wie der Anblick von Abigail Mantel, die im Graben lag. Denn nach ein paar Sekunden hatte Emma eingesehen, dass es tatsächlich Abigail war. Niemand sonst hatte solche Haare. Während sie darauf wartete, dass ihre Mutter zu ihr kam, liefen ihr die Tränen über das Gesicht.
    Als sie auf ein paar Yards herangekommen war, breitete ihre Mutter die Arme aus, damit Emma ihr entgegenlief. Emma fing an zu schluchzen, stoßweise und erstickt, sodass sie kein Wort herausbrachte. Mary hielt sie fest und strich ihr die Haare aus dem Gesicht, so wie früher, als sie noch in York gewohnt hatten, als Emma noch ein Kind war und hin und wieder Albträume hatte.
    «Nichts ist es wert, dass man sich so darüber aufregt», sagte Mary. «Was immer auch passiert ist, wir bringen das wieder in Ordnung.» Was sie meinte, war:
Du weißt doch, dass dein Vater nur tut, was er für richtig hält. Wenn wir es ihm erklären, wird er es schon verstehen
.
    Dann zog Emma sie zu dem Graben und bedeutete ihr, nach unten zu sehen, auf Abigail Mantels Leiche. Sie wusste, dass nicht einmal ihre Mutter das hier wieder in Ordnung bringen konnte.
    Erst herrschte entsetztes Schweigen. Es war, als bräuchte auch Mary Zeit, um zu begreifen, was sie da sah, doch dann ertönte ihre Stimme erneut, plötzlich laut und bestimmt: «Hast du sie angefasst?»
    Der Schock riss Emma aus ihrer Erstarrung.
    «Nein.»
    «Wir können jetzt nichts mehr für sie tun. Emma, verstehst du mich? Wir gehen nach Hause und benachrichtigendie Polizei, und es wird uns alles wie ein furchtbarer Traum vorkommen. Aber du bist nicht schuld daran, und es gibt auch nichts, was du hättest tun können.»
    Und Emma dachte:
Wenigstens lässt sie Jesus aus dem Spiel. Wenigstens erwartet sie nicht, dass mich das trösten soll
.
    ***
    Im Schlafzimmer des Captain’s House rüttelte der Wind noch immer an dem undichten
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