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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld
Autoren: Ann Cleeves
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sofort aufgefallen war. Unter dem Mantel trug sie einen dezent figurbetonten, knöchellangen Rockund braune Lederstiefel. Die ganze Befragung hindurch versuchte Emma krampfhaft, sich zu entsinnen, wie die Frau hieß, die schließlich die einzige Verbindung der Familie zur Polizei werden und sie über neue Entwicklungen in dem Fall informieren sollte, damit sie sie nicht erst aus der Zeitung erfahren mussten.
    Die Kommissarin   – Kate? Cathy? – saß noch kaum, da stellte sie schon diese Frage: «Was hast du denn da gemacht, allein draußen im Sturm?»
    Es war so schwierig zu erklären. Emma konnte ja schlecht sagen:
Na ja, es war halt Sonntagnachmittag.
Obwohl ihrer Meinung nach keine weitere Erklärung nötig gewesen wäre. An den Sonntagen waren sie oft so gereizt, alle waren daheim und versuchten, eine mustergültige Familie zu sein. Es gab nicht viel, was man nach der Kirche noch unternehmen konnte.
    An jenem Sonntag war es schlimmer gewesen als sonst. Emma hatte durchaus ein paar gute Erinnerungen an die gemeinsamen Mahlzeiten in Springhead House, Gelegenheiten, bei denen Robert aufgeräumt und mitteilsam war und Witze erzählte, über die sie sich vor Lachen kugelten, oder bei denen ihre Mutter über ein Buch, das sie gerade las, ins Schwärmen geriet. Dann schien es fast so, als kehrten die guten Zeiten, die sie in York verlebt hatten, zurück. Doch das war, bevor Abigail ums Leben kam. Das Mittagessen an jenem Sonntag markierte einen Wendepunkt, einen Stimmungsumschwung, jedenfalls kam es Emma später so vor. Sie erinnerte sich mit erstaunlicher Klarheit daran: Sie saßen alle vier am Tisch, Christopher war schweigsam und wie üblich vollkommen in seine eigenen Unternehmungen versunken, Mary teilte mit einer Art verzweifelter Energie das Essen aus, wobei sie unentwegt redete, Robert war ungewöhnlich still. Emma nahmsein Schweigen als gutes Zeichen auf und flocht ihre Frage ganz beiläufig ins Gespräch ein. Fast hoffte sie, dass er sie gar nicht hören würde.
    «Es ist doch okay, wenn ich später noch zu Abigail gehe, oder?»
    «Mir wäre es lieber, du bleibst hier.» Er sprach ganz ruhig, doch sie ging in die Luft.
    «Wieso denn?»
    «Es ist ja wohl nicht zu viel verlangt, wenn du einmal einen Nachmittag mit deiner Familie verbringst.»
    Das fand sie so ungerecht! Sie verbrachte jeden Sonntag eingepfercht in diesem schrecklichen, feuchten Haus, während ihre Freundinnen sich trafen und etwas unternahmen. Und noch nie hatte sie einen Aufstand gemacht.
    Sie half ihm beim Abwasch, wie sonst auch, doch ihre Wut nahm nur weiter zu, schwoll an wie ein Fluss, der sich hinter einem Damm aufstaut. Als ihre Mutter später hereinschaute, sagte sie: «Ich gehe jetzt zu Abigail. Ich komme nicht so spät zurück.» Sie sagte es zu Mary, nicht zu ihm. Und dann stürmte sie an ihnen vorbei, ohne auf die flehentlichen Bitten ihrer Mutter zu achten.
    All das kam ihr dumm und bedeutungslos vor, nun da sie wusste, dass Abigail tot war. Der Tobsuchtsanfall einer Zweijährigen. Und als dann ihre Mutter neben ihr saß und die schicke Frau sie ansah und auf etwas wartete, konnte sie ihren Frust und ihr Bedürfnis, da rauszukommen, kaum noch erklären.
    «Mir war langweilig», sagte sie schließlich. «Sonntag nachmittag , Sie wissen schon.»
    Die Kommissarin nickte, offenbar verstand sie das.
    «Abigail war der einzige Mensch, den ich kenne. Auf der Straße sind es ein paar Meilen. Es gibt eine Abkürzung über die Felder.»
    «Wusstest du denn, ob Abigail zu Hause sein würde?», fragte die Kommissarin.
    «Ich habe sie Freitagabend im Jugendzentrum getroffen. Sie hat gesagt, sie will ihrem Vater am Sonntag was ganz Besonderes zum Essen kochen. Weil sie ihm dankbar ist.»
    «Wofür war sie ihrem Vater denn dankbar?» Doch Emma hatte den Eindruck, dass die Kommissarin die Antwort darauf schon kannte oder zumindest eine Vermutung hatte. Aber woher denn? Wann hätte sie das denn herausfinden sollen? Vielleicht war es ja nur diese Aura der Allmacht, die sie umgab.
    «Dafür, dass er Jeanie Long gebeten hat auszuziehen, sodass sie das Haus wieder für sich allein haben.»
    Und da nickte die Kommissarin wieder, zufrieden, als wäre sie eine Lehrerin und Emma hätte eine Prüfungsfrage richtig beantwortet.
    «Und wer ist Jeanie Long?», fragte sie, und erneut hatte Emma das Gefühl, dass sie die Antwort schon kannte.
    «Das war die Freundin von Mr   Mantel. Sie hat bei ihnen gewohnt.»
    Die Kommissarin notierte sich etwas in einem
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