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Opernball

Opernball

Titel: Opernball
Autoren: Josef Haslinger
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nicht darauf ein, sondern erzählte mir, er habe jetzt viermal Madame Bovary gelesen. Dann fragte er mich unvermittelt, ob ich Stan Parker sei.
    »Stan Parker?«
    »Kennst Du nicht The Tree of Man von Patrick White?«
    »Doch, ich habe es einmal gelesen. Aber das ist lange her. Der Mann, der am Schluß stirbt, heißt der Stan Parker?«
    Fred versuchte wieder eine Zigarette zu drehen. Ich gab ihm meine Schachtel und sagte: »Behalte sie.«
    Er nahm sie nicht. Auf seiner Tabaktasche war kein Barcode.
    »Wovon lebst Du?« fragte ich ihn.
    Er grinste. Seine rötlichen Augenbrauen waren unter dem Palästinensertuch gerade noch zu sehen.
    »Du bist nicht Stan Parker«, sagte er.
    »Brauchst Du Geld?« fragte ich ihn.
    »Ich werde water purifier verkaufen.«
    »Du hast also Geld.«
    »Borge mir hundert Pfund. Bis morgen, okay?«
    Ich gab ihm hundert Pfund. Dann hatte er es plötzlich eilig.
    »Wir treffen uns hier morgen um dieselbe Zeit«, sagte ich.
    Er ließ das Bier stehen und ging fort. Ich sah ihm durch das Fenster nach. Er ging die Brixton Road Richtung U-Bahn, bog aber dann nach links in die Electric Avenue ab. Nach einer Weile folgte ich ihm nach, konnte ihn aber nicht mehr finden. Vor dem Bogen einer Eisenbahnbrücke saß der Junkie mit dem grünen Spinnennetz im Gesicht.
    Fred ist tot. Er hatte einen roten Vollbart. So wie ich, als ich jung war. Bei Innenaufnahmen lief er zwischendurch hinaus, um zu rauchen. Nur an diesem einen Abend in der Wiener Staatsoper nicht. Ich hatte es ihm nicht erlaubt.
    »Ich muß Deine Kamera jederzeit zuschalten können«, hatte ich gesagt. »Sie hat den besten Blick auf das Orchester.«
     
    Der Ingenieur
    Erstes Band
     
    »Jede Kultur hat das Recht auf ungestörte Entwicklung, jede Kultur hat das Recht auf Reinheit.«
    Das, so hat uns der Geringste erzählt, sei ihm schlagartig klargeworden, als er nach Wien kam und gezwungen war, den mühsamen Aufstieg seines Vaters zu wiederholen. Sein Vater, ein Häuslerbub aus dem Waldviertel, war mit dreizehn Jahren vor der Wahl gestanden, entweder lebenslang in Knechtschaft zu leben oder, gestützt auf nichts als den eigenen Willen, alles zu riskieren. Er entschied sich für letzteres, schnürte sein Ränzlein und lief aus der Heimat.
    »Wenn ich«, sagte der Geringste, »fünfzig Jahre später gezwungen war, dasselbe zu tun, dann ist das doch der schlagende Beweis, daß wir nicht vorangekommen sind, daß der ganze Weltkrieg umsonst war. Mit siebzehn Jahren stand ich vor derselben bitteren Entscheidung wie mein Vater mit dreizehn. Wollte ich weiterkommen, mußte ich alles hinter mir lassen.«
    Es gibt eine Reinheit der eigenen Seele, »eine Charakterstimme«, wie der Geringste das nannte, die mehr wiegt als jede Erfahrung. Alle hatten seinem Vater abgeraten, fortzugehen, ja sie wollten ihn sogar daran hindern. Den Knechten schien es gar nicht zu gefallen, daß einer der Ihren diesem Los entkommen wollte. Ihr mieses Leben war das einzige, was sie sich noch vorstellen konnten. Es scheint viel Trost in der Gewißheit zu liegen, daß das Unglück des eigenen Lebens im Unglück künftiger Generationen sich fortsetzt.
    »Das gewöhnliche Leben«, so hat uns der Geringste von Anfang an gesagt, »ist schicksalsergeben. Orientiert Euch nicht an den Perspektiven des gewöhnlichen Lebens. Es ist ausgelaugt und hat nichts mehr anzubieten. Es bezieht seine Höhen und Tiefen aus dem Fernsehapparat. Das gewöhnliche Leben scheut davor zurück, sein Schicksal herauszufordern, weil es Angst hat vor einem ehrlichen Blick auf das eigene Unglück.«
    Der Geringste, wiewohl er uns jede Bemerkung, die ihn über andere gestellt hätte, strikt verbat, war kein Gewöhnlicher. Gerade weil wir das nicht sagen durften, war es um so augenscheinlicher. Er war anwesend wie niemand sonst. Man spürte ihn, wenn er eintrat, auch wenn man nicht hinsah. Wenn er zu reden anfing, verstummten alle. Niemand hat ihn zum Führer gemacht. Er war es einfach. Auf ihn haben alle gehört. Oft brauchte er nicht einmal etwas zu sagen. Man hat ihm in die Augen gesehen und verstanden, was er meinte. Alles teilte sich aus seinen Augen mit.
    Diese Sprache war mindestens so wichtig wie seine Worte. Vielleicht war es das völlige Übereinstimmen dieser beiden Sprachen, das ihn so einmalig machte. Er war ganz er selbst. Nein, er war wir. Nie hatte ich das Gefühl, daß er für sich selbst etwas wollte. Er war die Bewegung. Er verkörperte sie voll und ganz. Wir fanden uns in ihm. Ich weiß nicht,
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