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Opernball

Opernball

Titel: Opernball
Autoren: Josef Haslinger
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ihn fast jede Nacht besuchte, sagte er einmal: »Weißt Du, was die Essenz der Lehren des Abtes von Kremsmünster war? Daß die Zukunft nur über den Verrat zu erlangen ist.«
    Das hat mir zu denken gegeben. Wahrscheinlich würde ich ohne diesen Rat heute nicht auf Mallorca sitzen, sondern wäre auf der Totenliste. Ja, wie Ihr Sohn. Nein, verdammt noch mal. Auch der Geringste ist tot. Ich dachte, Sie wollen alles wissen. Ich war es nicht. Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich: Es war überhaupt niemand von uns. Wollen Sie abbrechen, oder können wir fortfahren?
    Der Abt von Kremsmünster hatte sich bei den Einladungen des Geringsten zu Zigaretten und Wein in die Prälatur, die mit den Jahren immer häufiger wurden, als Verehrer von Judas Ischariot zu erkennen gegeben. Judas sei der wahre Held des Christentums. Er habe sich geopfert, um das Erlösungswerk zu ermöglichen, da Jesus schwach geworden sei und, anstatt sich freiwillig zu stellen, verzweifelt zu beten angefangen habe. Danach sei Judas nichts anderes übriggeblieben, als Selbstmord zu begehen. Für die Anhänger von Jesus sei er zum Verräter geworden, zum Hassenswertesten, was denkbar ist. Niemand werde so gehaßt wie ein Verräter, weil niemand die eigenen Fähigkeiten und den eigenen Weg so sehr in Frage stelle, weil niemand einem die eigene Unfähigkeit und den eigenen Irrweg so drastisch vor Augen führe. In Wirklichkeit habe Judas, so sei der Abt von Kremsmünster im Privatgespräch nicht müde geworden zu betonen, das Erlösungswerk gerettet. Er habe, unter Preisgabe seiner Zukunft, sich selbst zum Werkzeug der Heilsgeschichte gemacht. Die kleine Christenschar mit ihren revolutionären Ideen wäre verschwunden wie Hunderttausende andere Sekten der Weltgeschichte, hätte Judas nicht den Anstoß dafür gegeben, daß die Bekenner nicht nur mit Wasser, sondern auch mit Blut getauft wurden. Große Ideen verlangen ihren Blutzoll, sonst gehen sie unter.
    »Wer die Idee des Pazifismus durchsetzen will«, hat der Geringste gesagt, »muß letztlich Atombomben werfen.« Das waren dann nicht mehr die Gedanken des Abtes von Kremsmünster, das war sicher schon ihre Fortsetzung im Kopf des Geringsten. Er hat natürlich gewußt, daß für mich, wie auch für die anderen, seine Gedanken ein Evangelium waren, eine Offenbarung. Aber nur mir war es gegönnt zu erfahren, wie diese Gedanken entstanden sind. Ich empfinde das heute noch als eine Auszeichnung und werde mich ihrer würdig erweisen.
    Darum erzähle ich Ihnen das alles. Verstehen Sie, der Geringste war nicht einfach irgendein Terrorist, der den Opernball vergasen wollte, weil es ihm gerade Spaß machte oder weil er ein paar Leute haßte, die sich dort vergnügten. Es ging um etwas ganz anderes. Um Ihnen das begreiflich zu machen, muß ich ausholen. Kremsmünster ist für die Entwicklung des Geringsten nicht hoch genug einzuschätzen. Wer seine Schulzeit hindurch den Geruch eines tausendzweihundert Jahre alten Klosters einatmet und im zwanzigsten Jahrhundert jeden Morgen Gesänge aus dem zehnten Jahrhundert anstimmt, entwickelt, ob er sich dessen bewußt ist oder nicht, eine tiefe Ehrfurcht gegenüber großen, über alle geschichtlichen Rückschläge erhabenen Ideen. Was immer in unserem Lande geschehen sein mag, welche Herrscherhäuser und Regierungsformen im Laufe von tausend Jahren einander abgewechselt haben, welche Volksaufstände auch verloren, Armeen besiegt, Dörfer ausgelöscht, Städte bombardiert, Landstriche besetzt und in andere Sprachen umbenannt wurden, Kremsmünster blieb davon unberührt. Kremsmünster war immer schon da, Kremsmünster blieb Kremsmünster. Dort sammelten sich im neunten Jahrhundert die Mönche mehrmals am Tag zum lateinischen Chorgebet, genau so, wie sie es in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts taten, als der Geringste dort Oberministrant war und in privaten Gesprächen von seinem Religionslehrer, dem Abt des Klosters, ins Vertrauen gezogen wurde. Von Kremsmünster aus auf die Geschichte Österreichs zu blicken war wie das Gnadenrecht einer Perspektive sub specie aeternitatis. Dem Geringsten war es gewährt, und er hat es später verstanden, diesen unschätzbaren Vorteil für sein Denken zu nutzen und an uns weiterzugeben.
    »Richtige Ideen«, so hat uns der Geringste gelehrt, »können weder von der Presse noch vom Fernsehen, auch nicht von der wöchentlichen Meinungsumfrage umgestoßen werden. Sie sind wie eine brennende Lunte. Was eben noch
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