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Opernball

Opernball

Titel: Opernball
Autoren: Josef Haslinger
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sagte der Geringste. Er schüttelte den Kopf, und über seinem Mund war der Anflug eines spöttischen Lächelns. Es kam ganz selten vor, daß der Geringste lächelte. Darum erinnere ich mich so genau. Er lächelte über seinen Vater und sagte: »Das war seine Heldentat. Immer wieder hat er davon erzählt. Ich konnte es nicht mehr hören. Er hat einen Brief mit einer sonderbaren Adresse versehen. Darin steckte der ganze Mut seines Lebens. Und wahrscheinlich hat es nicht einmal jemand bemerkt.«
    1944 wurde der Vater des Geringsten zum Leiter der Zentralwerkstätte Ost ernannt. Bevor die Rote Armee Lublin erreichte, verminte er das gesamte Werkstättengelände und jagte es in die Luft.
    Nach dem Krieg war der Vater des Geringsten einer der meistgefragten Männer. Es gab praktisch keinen Posten im Bereich der Metallindustrie, der ihm nicht angeboten wurde. Die Sozialistische Partei wollte ihm den Wiederaufbau der Hermann-Göring-Werke – damals war man sich noch nicht einig, wie sie nun heißen sollten – anvertrauen, die Volkspartei wollte ihn zum Direktor der Steyr-Werke machen. Im Gespräch war auch noch die Leitung des Wiederaufbaus der Flugmotorenwerke oder der Österreichischen Bundesbahnen. Aber nichts interessierte ihn so sehr wie eine Stellung bei seiner alten Firma, der Post.
    »Ohne den Krieg«, sagte der Geringste, »hätte er es vielleicht zum Meister in der Werkstätte gebracht. Nun zog er als Verwaltungsdirektor aller Postwerkstätten in die Generaldirektion ein. Bis er eine der Sekretärinnen, mit denen er Verhältnisse hatte, zur Frau nahm, vergingen noch einige Jahre.«
    Vom Bauernknecht zum höheren Verwaltungsbeamten, dieser Weg des Vaters stand in der Erinnerung des Geringsten mit roter Kreide auf der Wand des Hauses in Litzlberg am Attersee geschrieben, in das die Familie nach der Pensionierung des Vaters übersiedelte. Die letzten zehn Arbeitsjahre hatte er sein ganzes Geld in dieses Haus gesteckt. Jedes Wochenende fuhr er nach Litzlberg. Wenn er am Sonntagabend zurückkam, jammerte er, daß die Handwerker im neuen Haus nicht gearbeitet, sondern offenbar wieder nur eine Woche Urlaub gemacht hätten. Seine bittere Jugend ließ ihm ganz natürlich das später Erreichte um so größer erscheinen, als dieses doch nur ausschließliches Ergebnis seines eisernen Fleißes und eigener Tatkraft war. Es war der Stolz des Selbstgewordenen, der ihn bewog, auch seinen Sohn in die gleiche, wenn möglich natürlich höhere Lebensstellung bringen zu wollen.
    Als der Vater seine Pension am Attersee antrat, kam der Geringste ins Stiftsgymnasium von Kremsmünster. Er hatte kaum Zeit gehabt, sich in Kremsmünster einzuleben, da machte sich sein Vater schon Gedanken darüber, welches Studium er seinem Sohn acht Jahre später finanzieren werde.
    »Du wirst einmal Jus studieren, das öffnet Dir das gesamte Feld der Verwaltung bis hinauf in die Politik.« So redete er mit seinem Sohn. Alle bedeutenden Positionen in der Umgebung des Vaters waren mit Juristen besetzt gewesen. Der Geringste jedoch wollte Priester werden, dann Missionar, schließlich Prälat. Der Abt des Stiftes Kremsmünster wurde sein großes Vorbild.
    Schon in der Unterstufe, im Alter von dreizehn Jahren, geschah es zum ersten Mal, daß der Abt den Geringsten in die Prälatur einlud, ihm Zigaretten und Wein anbot und ihm von Judas Ischariot erzählte, dem Verräter Jesu.
    Nach seiner Wiederkehr wollten wir wissen, wer in Amerika seine Lehrer gewesen waren. Er antwortete: »Der Abt von Kremsmünster und niemand anderer hat mir die Augen geöffnet. Bei ihm hat mein Denken Feuer gefangen. Was ich in Amerika dazugelernt habe, lag alles schon in mir. Es war nichts als ein Schüren der Glut aus Kremsmünster.«
    Der Abt von Kremsmünster hat so großen Eindruck auf den Geringsten gemacht, daß er begann, ihn zu verehren und ihm nachzueifern. Er konnte sich damals kein wünschenswerteres Lebensziel vorstellen, als selbst einmal Abt in einer Prälatur zu sein. Allerdings, so sagte er zu mir, sei er sich der Tragweite der Gedanken des Abtes keineswegs bewußt gewesen. Er habe diese Gedanken bei seiner späteren Abwendung von der Kirche sogar gänzlich aus dem Auge verloren. Er habe gemeint, allem Theologischen endgültig den Rücken kehren zu müssen, und sei erst später, in Amerika, dahintergekommen, daß seine Abwendung vom Theologischen nichts anderes war als die konsequente Anwendung der Gedanken des Abtes von Kremsmünster. Nach seiner Wiederkehr, als ich
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