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Opernball

Opernball

Titel: Opernball
Autoren: Josef Haslinger
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geschafft.
    Er sieht auf dem kleinen Monitor, daß die Menschen im Parkett zusammenbrechen. Er spürt den Bittermandelgeruch. Jetzt müßte er in den Inspizientenraum laufen. Aber er tut es nicht. Seine Augen beginnen zu brennen. Die Gedärme drängen herauf. Mit einem Mal ist er sicher, daß auch er gleich sterben wird. Aber anstatt zu flüchten, beginnt er zu zoomen. Die Gegenstände verschwimmen, bewegen sich wie Wellen von ihm weg. Es reckt ihn. Er tritt einen Schritt zur Seite, um zu kotzen, hält aber die Hand noch am Zoom-Knopf. Es krümmt ihn zusammen. Er läßt die Kamera los, sucht vor sich Halt. Er stürzt, stürzt, unendlich tief, tausende Meter, kann nicht mehr atmen, kann sich nicht mehr bewegen. Es gibt keinen Boden. Wie ein Glockenspiel hört er aus der Ferne die Todesschreie der anderen. In seinem Inneren hat sich ein Feuer entzündet. Es breitet sich mit rasender Geschwindigkeit im ganzen Körper aus. Bis ein glühender Ball aus seinem Inneren fährt und im fernen Nebel verschwindet.
    Er ist mir nur vorausgegangen und wird nicht wieder nach Haus verlangen. In der kurzen Zeit zwischen Golfkrieg und Jugoslawienkrieg gelang es mir, Fred nach Jahren das erste Mal zu sehen. Er kam nicht zu mir, sondern ich mußte mich auf sein Terrain begeben. Als Treffpunkt nannte er mir am Telefon die Village Brasserie an der Ecke Stockwell Road / Brixton Road. Ich war noch nie in dieser Gegend gewesen. Ich wußte nur, daß vor allem Schwarze dort wohnen, auch Asiaten. Als ich im Lokal eintraf, war ich angenehm überrascht. Es war fast leer und wirkte, ganz gegen meine Erwartungen, nicht verkommen. Runde, schwarze Tische, Aluminiumstühle, etwas zu laute Musik. Fred war noch nicht da. Ich bestellte einen Cappuccino. In der Ecke lief ein Fernsehapparat ohne Ton. An der Wand hingen zwei Reproduktionen von Joan Miró. Vor den tief hinabreichenden Fenstern gingen schwarze Frauen und Kinder vorbei, gelegentlich Männer. Junge Burschen schlängelten sich mit Fahrrädern zwischen den Passanten durch. Dann kam Fred. Ich erkannte ihn kaum. Um den Kopf hatte er ein Palästinensertuch gewickelt. Seine Füße waren schmutzig. Sie steckten in abgetragenen Sandalen. Er setzte sich mir gegenüber und grinste mich an.
    »Was trinkst Du?« fragte ich ihn.
    »Worthington Bitter.«
    Ich bestellte auch einen für mich. Seine Hände waren ungewaschen, die Nagelenden mit Dreck verstopft. Ring- und Zeigefinger der rechten Hand waren vom Rauchen gelb und bräunlich gefärbt. Er nahm Tabak aus der Hosentasche und drehte sich eine Zigarette. Ich sah, daß seine Hände zitterten. Die Zigarette gelang nicht. Er ließ sie fallen und probierte es erneut. Auch die zweite Zigarette gelang nicht. Der Tabak landete auf dem Tisch, das Papier war eingerissen. Ich bot ihm eine Zigarette an. Er nahm die Schachtel zur Hand und verwies auf den darauf abgedruckten Barcode.
    »Das kann angefunkt werden. Sie können Dich überallhin verfolgen.«
    »Wer?«
    »Die Nazis.«
    »Woher weißt Du das?«
    »Ich liege mit ihnen im Clinch. Würden mir die Franzosen nicht helfen, die Nazis hätten mich längst erwischt.«
    Er erzählte mir, daß die französische Botschaft schützend ihre Hand über ihn halte. Neulich habe er Franςois Mitterrand in einer öffentlichen Toilette getroffen. Der Präsident habe ihm beim Pinkeln versichert, daß ihm nichts geschehen werde. Ich hörte ihm zu und nickte. Von seiner Zigarette fiel die Asche herab. Er rauchte gierig. Das Bier trank er nur langsam. Er schaute immer wieder ins Glas hinein, hielt es gegen das Licht. Er sagte: »Die verwenden vergiftetes Wasser. Man kriegt jetzt überall vergiftetes Wasser.«
    Er fragte mich, ob in meinen Wasserhähnen Filter eingebaut seien. Er trinke nur noch gefiltertes Wasser. Dann erzählte er mir von einem neuen water purifier. Er kenne den Mann, der ihn erfunden habe.
    Plötzlich stand er auf und ging weg. Ich dachte, jetzt läuft er mir davon. Er ging zu einem Tisch neben der Theke und setzte sich wieder.
    »Dort sind zu viele Strahlen«, sagte er. Ich kam mit den Gläsern und den Zigaretten nach.
    Ich fragte ihn, wo er wohne. Er gab mir keine Antwort. Statt dessen grinste er mich wieder an. Er sagte: »Wo ich wohne, habe ich die Fenster vernagelt. Mir können die Nazis nichts anhaben.«
    Ich wußte nicht, was ich darauf antworten sollte. Er sagte, auch die Franzosen hätten ihm geraten, nicht hinter Fenstern zu sitzen.
    Ich fragte ihn, ob die Strahlen nicht auch Holz durchdrängen. Er ging
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