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Opernball

Opernball

Titel: Opernball
Autoren: Josef Haslinger
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allen Scheinwerfern, die in den Beleuchtungsluken keinen Platz mehr fanden. In der Nacht vor dem Opernball waren die Scheinwerfer abmontiert worden. Fred war froh gewesen über seine Kameraposition, weil er in der Beleuchtungsloge von Ballgästen unbehelligt blieb, auch weil die Kaiserloge, der Treffpunkt der politischen Prominenz, direkt darunter lag und somit für Kamera fünf nicht erfaßbar war.
    Er hat nicht einmal versucht zu entkommen. Unmittelbar neben ihm war die Tür zum Inspizientenraum. Er hat sie nicht geöffnet. Von dort aus hätte er über einen Gang zur sogenannten Personaltreppe gelangen können. Alle, die über die Personaltreppe flüchteten, haben überlebt. Die Personaltreppe wurde nicht belüftet. Fred blieb bei seiner Kamera. Er filmte bis zum Schluß.
    Einen Monat lang sah ich mir den letzten Schwenk seines Kollegen immer wieder an. In Standbild und Zeitlupe. Der Blick führt nach oben zur rechten Seite der Kaiserloge, wo eine Hand mit weißem Manschettenhemd und hinaufgerutschtem Frackärmel über die Brüstung ragt, geht weiter, die beigegoldenen Samttapeten entlang zu einem Kranz von rosa Nelkenbouquets, bis das Fenster des Inspizientenraums sichtbar wird und die Brüstung der Beleuchtungsloge. Da ist plötzlich Fred zu sehen. Er geht einen Schritt zur Seite, krümmt sich nach vorn, öffnet den Mund, als müsse er erbrechen. Mit der rechten Hand hält er noch den Steuerarm der Kamera fest. Er richtet sich auf, läßt den Steuerarm los, streckt beide Hände von sich, wankt. Er reißt die Augen weit auf. Dann ist sein Kopf aus dem Bild. Der Schwenk geht weiter hinauf zu den Menschenknäueln auf der Galerie, in denen noch Arme, Köpfe und Beine zucken, zur Decke, und bleibt stehen, als der Kristallüster am Bildrand erscheint. Um Null Uhr 58:57 Sekunden kommt aus einem Mikrophon, das direkt vor Kamera fünf angebracht war, Freds Todesschrei. Auf Kamera fünf wird kurz zuvor noch gezoomt. Bei Null Uhr 58:49 Sekunden hört die Kamerabewegung auf. Man sieht in Großaufnahme eine gegenüberliegende Loge, in der eine tote Frau mit rotem Abendkleid sitzt. Ihr Körper ist seitlich an die Logenbrüstung gestützt, ihr Kopf hängt nach hinten über die Stuhllehne. Ihre Augen sind weit offen.
    Einen Monat lang sah ich nur solche Bilder. Am Abend saß ich daheim und trank.
    »Would you hold my hand«, flehte ich und weinte Rotz und Wasser dabei. Fred würde mir im Himmel die Hand verweigern. Er hatte allen Grund dazu.
    Einmal machten wir eine Küstenrundfahrt in Brighton. Fred saß auf meinem Schoß. Er war noch keine zwei Jahre alt. Die Küste interessierte ihn nicht. Er blickte nur zum Meer. Dann stand er auf, stellte sich auf meine Oberschenkel und schaute ins Kielwasser hinab. Ich hielt ihn ganz fest an den Beinen. Das Wellenspiel faszinierte ihn. Er streckte seinen Kopf über die Reling hinaus. Heather hatte Angst, er könnte hinunterfallen.
    »Ich halte ihn doch«, sagte ich. Sie konnte nicht zusehen. Sie verlangte, daß ich Fred sofort niedersetze.
    »Aber ich halte ihn doch fest. Was soll passieren. Ich halte ihn doch.«
    Wir zankten uns, während Fred ins Wasser schaute. Nach einer Weile setzte ich ihn zurück auf meinen Schoß. Er hatte rote Augen. Über seine Wangen liefen Tränen.
    Solche Erinnerungen überschwemmten meinen Kopf, während ich trank und mir mit der flachen Hand die Stirn rieb. Ich stellte mir vor, wie das Kielwasser Freds kleinen Körper in die Tiefe hinabzog, wie er immer tiefer sank mit ausgebreiteten Armen, in eine Welt, in der er nicht überleben, der er aber auch nicht entrinnen konnte. Und ich hatte es nicht einmal bemerkt.
    Nach der Scheidung lebte ich im Hotel. Fred war bei Heather im Haus geblieben. Ich war mittlerweile Kriegsberichterstatter der BBC und seit Monaten ohnedies kaum noch daheim gewesen. Dann kam eine Zeit, in der die Kriege nicht richtig reifen wollten. Konfliktherde gab es zur Genüge, aber es schien, als hätten die Militärs ihre Kraft verloren. Brutale Diktaturen, die eben noch Kritiker bespitzelten und ins Arbeitslager steckten, ließen sich nun mehr oder weniger widerstandslos stürzen. Ein paar Interviews mit Oppositionellen, ein paar Bilder von Großdemonstrationen – und ich konnte wieder zurückfliegen. Ich hing in meinem Hotel im Stadtteil Bayswater herum, auf dem Bildschirm Tag und Nacht der Teletext der BBC mit den neuesten Weltnachrichten. Ich wartete auf einen richtigen Einsatz. Alle paar Tage riefen meine Eltern an und erzählten mir,
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