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Opernball

Opernball

Titel: Opernball
Autoren: Josef Haslinger
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Sie zeigt eine Loge mit Toten. Fred, wo bist du? Die letzte Kamera stellt die Bewegung ein. Nur noch starre Bilder von starren Körpern. Die amplifier der Saalmikrophone zeigen kaum noch Ausschläge. Fred liegt irgendwo unter den Leichenbergen.
    Einen Monat lang bin ich ihm nachgestorben, einen Monat lang habe ich ihm beim Sterben zugesehen. Ich habe im Bandmaterial die letzten Sekunden seines Lebens gefunden. Einen Monat lang habe ich sie in allen Einzelheiten studiert, wieder und wieder. Wenn die Tränen ausblieben, hielt ich das für ein Versagen, für einen Verrat. Ich hörte Eric Claptons Tears in Heaven, ich hörte Gustav Mahlers Kindertotenlieder. Dann konnte ich wieder weinen.
    Der kleine Bub in London. Wie er mit der Schultasche vor unserem neuen Haus in der Talbot Road auf den Eingangsstufen saß. Stundenlang. Um zwei Uhr hätte ich zu Hause sein sollen, aber ich kam erst nach fünf. Ich hatte ihn vergessen.
    »Einmal die Woche«, schrie mich Heather in der Nacht an. »Nur einmal die Woche. Und das vergißt du?«
    Fred saß da in seinem gelben Regenmantel. Er sah mich an, als würde er mich nicht kennen. Er verweigerte mir die Hand. Die Nachbarn links von uns waren nicht zu Hause gewesen, die anderen kannten uns noch nicht. Ich entschuldigte mich hunderttausendmal bei ihm. Er wollte mir nicht ins Haus folgen. Als wäre ich nicht wirklich hier. Ich öffnete die Tür, er blieb auf den Stufen sitzen. Ich trug ihn hinein und setzte ihn auf ein Sofa. Er blieb den ganzen Abend lang ein stummes Kind. Als ich ihn später auszog und zu Bett brachte, sagte ich, er solle sich etwas wünschen. Alles hätte er haben können. Er sah mich an und begann zu weinen. Ich streichelte ihn, bis er einschlief. Als wir Jahre später, nach seiner Heroinsucht, zusammenfanden, sagte er zu mir, er sei damals überzeugt gewesen, seine Eltern nie mehr zu sehen.
    Als Kind hatte er Heather und mich oft streiten gehört. Es ging vor allem um ihn. Fred war kein Wunschkind. Heather hatte sich geweigert, abzutreiben. Als das Kind da war, kamen wir mit ihm nicht zu Rande. Erst recht nicht, als Heather wieder zu arbeiten begann. Sie war beim Hörfunk der BBC, Kulturredaktion. Ich arbeitete in der Dokumentationsabteilung des Fernsehens. Unsere ständigen Zankereien seien eine Folge der zu kleinen Wohnung, redete ich mir ein. So konnte ich endlich in jene Gegend ziehen, in der ich meine Studentenjahre verbummelt hatte. Wir verschuldeten uns maßlos, als wir das Haus in der Talbot Road, einer Seitenstraße der Portobello Road, kauften. Nun mußten wir uns erst recht auf unsere Karrieren konzentrieren und hatten für Fred noch weniger Zeit. Damals war ich im Innendienst und hatte einigermaßen geregelte Arbeitszeiten. Heather verbrachte vormittags oder nachmittags ein paar Stunden im Studio, am Abend hetzte sie von einer Veranstaltung zur anderen. Trotzdem war sie es, die Fred versorgte. Ich hatte mich am Abend um das Kind zu kümmern. Meist engagierte ich eine Studentin. Nur an diesem einen Nachmittag die Woche, wenn Heather Redaktionskonferenz hatte, war ich wirklich für Fred da. Wir fuhren in den Zoo. Wir verbrachten Stunden in der Spielzeugabteilung von Harrods. Wir fuhren zum Hunderennen ins Walthamstow Stadium. Fred liebte Hunderennen. Mehr als Pferderennen. Mehr als Fußball oder Rugby. Und eines Tages vergaß ich ihn einfach. Ich saß im Studio und schnitt irgendeine Dokumentation. Um halb fünf fragte mich eine Kollegin verwundert: »Du bist da? Ist Fred bei Freunden?«
    Als Heather in der Nacht heimkam, gutgelaunt und ein wenig beschwipst, erzählte ich ihr, was geschehen war. Sie tobte. Hätte ich nicht das Haus verlassen, sie hätte die gesamte Einrichtung zerschlagen.
    Nach Freds Ermordung saß ich einen Monat lang im Studio und tat nichts anderes, als mir die letzten Sekunden seines Lebens anzusehen. Ich sollte das Material zu einer Dokumentation von 115 Minuten zusammenschneiden. Aber ich war unfähig dazu. Ich suchte nach Fred, und ich fand ihn. Die letzte noch bewegte Kamera brachte ihn kurz ins Bild. Der sie bediente, war offensichtlich zusammengebrochen. Die Kamera führte den Vertikalschwenk selbsttätig weiter bis zur Deckenbeleuchtung. Zuerst die Leichenberge im Parkett, dann ein Ruck und der Schwenk nach oben. Er streift die Kaiserloge, danach das rechte Fenster des Inspizientenraums und die unmittelbar angrenzende Loge, in der Kamera fünf stand. Normalerweise ist diese Loge nicht begehbar, weil sie vollgestopft ist mit
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