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Opernball

Opernball

Titel: Opernball
Autoren: Josef Haslinger
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ein hilflos dem Wind ausgeliefertes Flämmchen mit einem Rauchfähnlein war, kann im nächsten Augenblick den Weltenbrand entfachen.«
    In der zwölfhundert Jahre alten Beständigkeit von Kremsmünster mag der Geringste schon in früher Jugend eine Vorbereitung für eine seiner späteren Hauptideen erfahren haben, für das heilige Anspruchsrecht der eigenen Kultur. Was in den Bibliotheken überdauert, hängt nicht von Papierqualität ab, sondern darüber wird draußen mit Feuer und Schwert entschieden. Nur über den Scheiterhaufen verbrannter Hexen und geköpfter Häretiker konnte die Mönchskultur ihre Reinheit bewahren.
    Während sein Vater schon in Fachzeitschriften und durch Gespräche mit ehemaligen Kollegen die beste juristische Fakultät ausfindig zu machen suchte, wandelte sich in der Abgeschiedenheit des Klosterlebens die Berufsvorstellung des Geringsten. An den kirchlichen Ideen konnte er kein Genügen mehr finden, das Korsett der Alltagsordnung, die Wiederholung des immer Gleichen, ohne Aussicht, es jemals abschütteln zu können, erschien ihm von Tag zu Tag enger, und es wurde ihm bewußt, daß auch ein Abt mit diesem Korsett zu leben hatte, selbst wenn er heimlich Judas Ischariot verehrt. Das ewig Gleiche nährt den Traum vom Verrat, aber der Geringste war nicht von jener schwachen Natur, die sich mit Träumen begnügt, anstatt ihr Leben zu ändern. Der Geringste wollte ganz für und in seinen Ideen leben – und so reifte in ihm der Wunsch, Schriftsteller zu werden. Mit seinem Vater war darüber nicht zu reden.
    »Dichter?« fragte der, »Hungerkünstler? Nein, nicht solange ich lebe.«
    So, wie sein Vater sich einst gegen die guten Ratschläge der Knechte gewehrt hatte, so wollte auch der Geringste sich gegen die Pläne seines Vaters zur Wehr setzen. Der eigenen Zukunft wurde er von Tag zu Tag gewisser, und ihr begann er alles andere unterzuordnen. Bald stellten sich die ersten Schwierigkeiten in der Schule ein. Alles, was ihm vorgesetzt wurde, befragte er danach, ob er es später als Schriftsteller brauchen könne. Wenn es ihm bedeutungslos erschien, verweigerte er es. Seine Zeugnisse wurden zu einer bunten Ansammlung guter und schlechter Noten. Mehrere sehr gut und gut standen neben vielen genügend und auch einigen nicht genügend. Der Vater ermahnte ihn immer nachdrücklicher zu mehr Anstrengung. Doch er strengte sich ja an, bloß konnte er im Büffeln von allem und jedem, nur um es wieder zu vergessen, nicht den Sinn einer zwölfjährigen Ausbildung sehen. Die Revolutionierung des Schulsystems hat er später für eine der vordringlichsten Aufgaben gehalten.
    »Das Ziel des Unterrichts«, sagte er, »darf nie und nimmer im Auswendiglernen und Herunterhaspeln von Einzeldaten liegen. Es kommt nicht darauf an«, erklärte er uns, »wann diese oder jene Schlacht geschlagen, ein Feldherr geboren wurde oder gar ein (meistens sehr unbedeutender) Monarch die Krone seiner Ahnen auf das Haupt gesetzt erhielt. Nein, wahrhaftiger Gott, darauf kommt es wenig an.«
    Aber worauf kam es an? Der Geringste erkannte früh, daß die Welt im tausendzweihundertjährigen Kloster mit der Welt draußen nicht mehr übereinstimmte. Hier badete man täglich in der Reinheit der eigenen Lehre und tat so, als wären die nächsten tausend Jahre spielend zu bewältigen, aber draußen war ein ganzer Kontinent dem Untergang geweiht. Im Osten und Süden fraß das fremde Völkergift am europäischen Kulturkörper, und selbst die alte Kulturmetropole Wien wurde, wie allen Berichten zu entnehmen war, für die angestammte Bevölkerung mehr und mehr zur fremden Stadt.
    Der Geringste hatte keine Gelegenheit mehr, seinem Vater die wirklichen Motive für seine Verweigerung darzulegen. Denn während sein Widerwillen gegen das Klosterinternat und gegen das Stiftsgymnasium immer offensichtlicher wurde, ohne daß er mit sich selbst über die Gründe seines Aufbäumens schon ins klare gekommen wäre, starb sein Vater an einem Schlaganfall. Der unerwartete Tod schien die Entwicklung des Geringsten zu bremsen. Sein Drang, von den vorgegebenen Bahnen abzuschweifen, ließ nach, so als gelte es ein Vermächtnis des Vaters zu erfüllen.
    Der Abt von Kremsmünster nahm den Geringsten nun besonders unter seine Fittiche. Jeden Sonntag nach der Vesper läutete der Geringste an der Prälatur. Die Tür wurde elektrisch geöffnet, in vier aufeinander folgenden, durch hohe Flügeltüren verbundenen Barockzimmern gingen, wenn der Geringste sie durchschritt,
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