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Oma packt aus

Oma packt aus

Titel: Oma packt aus
Autoren: Brigitte Kanitz
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gegen den Lenker, und im Wald wurde es schlagartig dunkel.
    Seit wann werden in Nordergellersen Kälber gejagt?, dachte ich noch. Womöglich eines vom Küpperhof. Wenn Karl das wüsste!
    Ach, und wenn Opa das wüsste!
    Da hatte er sich so viel Mühe gegeben, die abtrünnige Enkelin heimzuholen, und nun erlag sie den Folgen eines Jagdunfalls.
    Oder so ähnlich.
    Das Kalb machte sich über die Brötchentüte her.
    Ich wurde ohnmächtig. Glaube ich jedenfalls.

3. Ein Schatten nimmt Gestalt an
    »Pfui Teufel!«
    Etwas nasses langes Klebriges fuhr mir übers Gesicht.
    »Paul, hör auf damit!«
    Wisch!
    »Lass mich schlafen.«
    Ein heißer stinkender Atem blies mich an. Duftnote Kalkutta-Abwasserkanal.
    »Igitt, Paul. Putz dir erst mal die Zähne!«
    Nach Waldboden roch es auch. Komisch. Mein Kopf tat weh. Irgendwo vorn unterm Haaransatz.
    »Typisch«, würde Oma Grete sagen. »Schon wieder eine Beule.«
    Neuerdings galt ich in der Familie nicht nur als eingeschränkt plietsch, sondern auch als ausgesprochen tollpatschig. Stimmte irgendwie. Diese Neigung, mir den Kopf zu stoßen, war neu. Erst am Seifenspender im ICE, als ich Opa heimbringen wollte, dann an meinem Hartschalenkoffer während meiner Flucht vor den Lüttjens’ und ihren Wahrheiten. Hatte mich von hinten angefallen, der Koffer, während sich das Auto vorn in einen Baum bohrte. Einmal war ich mit Pauls Stirn zusammengeknallt, als wir – pardon, das gehört nicht hierher. Ein anderes Mal, und das war erst letzte Woche gewesen, wollten zwei Berliner Ferienkinder auf Ernie und Bert über den Liegestuhl springen, in dem Großtante Marie unter einer warmen Decke schlummerte.
    Ich erwischte Bert in letzter Sekunde am Zügel, und Ernie hielt von selbst an. Leider ziemlich plötzlich. Der Junge wurde aus dem Sattel katapultiert, und eine Stiefelspitze traf meine Nase.
    »Du Tüdelbüx«, knurrte Oma Grete, die alles vom Küchenfenster aus beobachtet hatte. Vielleicht war sie auch sauer, weil Marie nicht unter Ponyhufen zertrampelt worden war.
    Na ja, und jetzt hatte ich mich wieder gestoßen, am … am … Fahrradlenker, weil … weil … – Mist!
    Ich linste vorsichtig nach oben und blickte in Pauls warme braune Augen.
    Ziemlich große Augen. Kalbsgroß. Und sie standen sehr weit auseinander. Die Stirn dazwischen war behaart. Vielleicht hatte ich ja eine Gehirnerschütterung. Genau, meine Sehfähigkeit war deswegen eingeschränkt.
    Mein Geruchssinn auch?
    Und konnte eventuell ein Hörnerv eingeklemmt sein?
    Das Kalb bellte jetzt.
    Was?
    Das Kalb bellte!
    Die Jagdhornbläser stimmten ein neues Lied an. Ich erkannte es. »Sau tot«, heißt es. »Gestern Abend schoss ich auf ein grobes Schwein, gestern Abend schoss ich auf ’ne Sau«, summte ich mit.
    Vor Schreck verstummte das bellende Kalb.
    Dafür passierte nun alles gleichzeitig.
    Ich setzte mich vorsichtig auf und stellte fest, dass ein schwarz-weiß gefleckter Hund mich erstens umgerannt, zweitens alle Brötchen aufgefressen, mir drittens mit der Zunge übers Gesicht gewischt und mich viertens angebellt hatte.
    Ein sehr, sehr großer Hund. Stockmaß mindestens wie Ernie, würde ich schätzen.
    Eine Frauenstimme rief: »Rüdiger, bei Fuß!«
    Rüdiger? Der Kalbshund konnte damit nicht gemeint sein. Er blieb ja auch über mir stehen und sabberte mich voll.
    »Rüdiger!«
    Rechts brach eine Gruppe Grünröcke aus den Büschen, blieb stehen, sammelte sich und starrte Rüdiger und mich an, mal vorausgesetzt, das Vieh hieß tatsächlich Rüdiger und hielt bloß nicht viel von Gehorsam.
    »Nele?«, fragte einer der Grünröcke. »Bist du das? Was machst du hier? Ist das euer neuer Hofhund? Und wo ist die Sau?«
    Karl Küpper senior blickte ziemlich verwirrt drein. Wäre fast mal mein Schwiegervater geworden, der Mann.
    »Hä?«, machte ich. Gehirnerschütterung, ich sag’s ja.
    Irgendwo weiter weg erklang Hundegebell. Rüdiger, oder auch nicht Rüdiger, antwortete, bis mir die Spuckehektoliter nur so um die Ohren flogen.
    »Das ist hinten am Bach!«, rief ein anderer Jäger. »Kommt, Leute. Die Hunde haben die Wildsau gefunden.«
    Küpper senior zögerte. Hinter seiner Stirn musste eine schwierige Entscheidung getroffen werden: sich um die merkwürdige Nachbarstochter kümmern oder seiner archaischen Neigung folgen?
    Der Jagdtrieb siegte. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er, schon im Wegdrehen.
    »Klar. Mir geht’s super.«
    »Na, dann sieh zu, dass du von hier verschwindest. Und das Kalb da nimmst du mit,
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