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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Autoren: dtv
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nötig und er sagte, wegen des Luftangriffs sei die Essenausgabe in der Garkücheauf den Nachmittag verschoben worden. Er wandte seiner Mutter den Rücken zu und fuhr fort, dass er mit Nadja irgendjemand besuchen wollte – eine halbe Wahrheit, die viel unglaubhafter klang als eine geschickte Lüge.
    »Versprich mir, dass du auch zu Onkel Wanja gehst!« Mit einem Ruck drehte sich Oleg um. Es war seiner Mutter also ernst damit, ihn aus der Stadt zu schicken! »Nein!«, entgegnete er hartnäckig. »Ich will nicht weg. Was auch geschieht, ich bleibe bei dir.«
    Seine Mutter zupfte nervös an der Bettdecke. Dann schaute sie Oleg so lange und so forschend an, dass der Junge die Augen niederschlug.
    Sah sie denn nicht, dass er kein Kind mehr war?
    »Gib mir doch bitte den Schreibblock und den Federhalter!«
    Oleg wusste, dass sie nun einen Brief an den Evakuierungsrat schreiben wollte. Aber er protestierte nicht dagegen. Wahrscheinlich gab es Tausende von Müttern, die dem Rat herzzerreißende Briefe schrieben. Heute Abend, wenn er mit den Kartoffeln zurückkam, wollte er seiner Mutter beweisen, dass er im Haushalt gebraucht wurde. Wenn er gezeigt hatte, dass er etwas wagte, würde er seine Mutter überzeugen können, dass er kein Kind mehr war, das man unbedingt wegschicken musste.
    Eilig griff er nach Block, Tinte und Federhalter. Er stellte alles auf das Nachtschränkchen neben dem Bett. Das leere Glas füllte er mit Wasser aus dem Eimer in der Zimmerecke. Ohne seine Mutter anzuschauen – sie durfte auf keinen Fall entdecken, was ervorhatte –, drückte er ihr einen flüchtigen Kuss auf die wunde Backe.
    »Auf Wiedersehen!« Es klang genau so, wie er es gewollt hatte: munter und aufgeweckt, als ob er zum Murmelspielen auf die Straße ginge.
    Die Kohlenschaufel war rasch gefunden. Er schob sie in den Gürtel. Einen Jutesack wickelte er sich unter dem Mantel um den Bauch. So trat er, viel dicker, als er in Wirklichkeit war, auf die Straße hinaus. Vaters Dienstpistole hatte er noch tief unten in der Tasche. Er drückte die Waffe an sich, als ob er dem Vater damit versichern könnte, dass er gut für seine Mutter sorgen werde.
    Nadja stand schon wartend auf der Straße. Es ärgerte Oleg, dass sie so ernst blickte und ihn mit gerunzelter Stirn von Kopf bis Fuß musterte, während er näher kam. Glaubte sie etwa, er sei noch nicht erwachsen genug? Oder zweifelte sie gar an seinem Mut?
    Unwillkürlich richtete er sich auf, um größer zu wirken. Er drückte die Brust heraus und bemühte sich, ein möglichst gleichgültiges Gesicht zu machen.
    »Gehen wir!«, sagte er gespielt munter.
    Da huschte ein Lächeln über Nadjas Gesicht. Es war ein warmes Lächeln voller Freundschaft. Offensichtlich war sie froh, dass er mitgehen wollte.
    »Komm nur!«, sagte sie und streckte Oleg die Hand entgegen. Sie gingen die Straße hinunter: vorüber am Haus von Stipolew, der erschossen worden war, weil er Lebensmittelkarten gefälscht hatte, vorüber an dem von Valentina Kalma, die als Heldin an der Front gefallenwar, vorüber an dem Haus von Viktor Zorow, der als Kriegsgefangener irgendwo in einem fernen Lager eingesperrt war, an dem von Iwan und Nina, das nur noch ein ausgebrannter Trümmerhaufen war.
    Nadja griff nach Olegs Hand, als wolle sie ihm Mut machen und ihm versichern, dass alles gut gehen werde. Oleg nickte ihr zu, um ihr zu zeigen, dass er keine Angst hatte. Schließlich hatte Serjoscha diesen Plan erdacht, bevor er für immer eingeschlafen war. Lastwagen mit Trümmerschutt, große Tankwagen mit Wasser, ein Krankenwagen und Laster mit Soldaten fuhren durch die Straßen. An einigen Plätzen standen Frauen und Kinder Schlange um Wasser, das ihnen auf dem Heimweg gefrieren würde. Der Vorteil dabei war, dass man dann nichts verschütten konnte. Oleg wusste das aus Erfahrung. Allerdings war es manchmal schrecklich schwer, das Eis dann im kalten Zimmer wieder aufzutauen.
    Oleg und Nadja sprachen wenig, nur hin und wieder ein paar Worte, die etwas mit ihrem Weg zu tun hatten. »Wenn jetzt nur kein Fliegeralarm kommt«, sagte Nadja besorgt. Oleg nickte schweigend. Fliegeralarm würde nur unnötigen Aufenthalt bedeuten.
    »Hoffentlich hält das Eis unter der Brücke schon«, murmelte Nadja ein Weilchen später. Das hoffte Oleg auch. In Gedanken sah er das drohende Wassertier seiner Träume in dem dunklen Wasser unter der Brücke schwimmen.
    »Es ist ziemlich weit«, seufzte Nadja, als sie in die nächste Straße einbogen.
    Diesen
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