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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Autoren: dtv
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Wanja kam ins Zimmer gestürmt – ein Bild der Erregung. Es musste etwas geschehen sein, denn er war einfach nicht wiederzuerkennen. Sein Lachen war so breit wie die Newa.
    »Wir haben heute Nacht einen Keil in die deutschen Linien getrieben!«, rief er ganz aufgeregt. »Wir haben die Eisenbahnlinie fest in der Hand. Heute Nacht haben wir Verbindung mit dem freien Russland bekommen. Die ersten Züge mit Lebensmitteln sind unterwegs!« Onkel Wanja umarmte Olegs Mutter. Er küsste sie auf ihren Ausschlag. Dann tanzte er durch das Zimmer auf Oleg zu, hob ihn aus dem Bett und drückte ihn mit seinen mächtigen Armen an sich.
    »Komm mit, Oleg, wir gehen in die Stadt!«, rief er ausgelassen mit seiner polternden Stimme. »Ich weiß genau, dass mit den ersten Zügen Pakete für die Kinder von Leningrad mitkommen.«
    Oleg sah seine Mutter an. Sie saß aufgerichtet im Bett. Es war, als ob die große Neuigkeit ihr frische Kräftegegeben hätte. Oleg sah es an ihrem Gesicht: Es wirkte stark und viel jünger. Sie sah aus wie früher. Statt des Fiebers strahlte jetzt Feuer aus ihren großen braunen Augen.
    »O Wanja, Wanja!«, rief sie.
    Oleg holte tief Luft. Eine schwere Last fiel ihm von den Schultern. ›Also doch!‹, dachte er. Das Wunder war in der vergangenen Nacht geschehen.
    Es wurde ein Tag, den Oleg nie vergessen sollte. Während seines Ganges mit Onkel Wanja durch die Stadt begriff er erst wirklich, dass Leningrad nun nicht sterben würde. Es sah aus, als ob alle Menschen auf Zehenspitzen gingen, als ob die Stadt ein Wundermittel eingenommen hätte, das allenthalben neue Kräfte weckte.
    Wie um Rache für die Niederlage zu nehmen, schoss die deutsche Artillerie unaufhörlich Brandgranaten in die Stadt. Wie immer standen Frauen auf den Dächern. Unter Einsatz ihres Lebens warfen sie die Brandbomben von den Dächern der Stadt hinunter auf die Straße, wo andere Frauen mit großen Asbesthandschuhen sie aufhoben und in riesige Zuber voll Wasser oder Schnee tauchten. Wie stets waren überall Männer und Frauen damit beschäftigt, Trümmer zu räumen und Ordnung in dem Chaos schwer getroffener Straßen zu schaffen. Wie immer lagen hier und da im Schnee Menschen, die den Kampf um die Freiheit mit dem Erschöpfungstod hatten bezahlen müssen. Aber neuer Mut belebte die Stadt. Man sah es an den Gesichtern. Man hörte die Worte, die durch die Straßenschallten: »Das ist der Anfang unserer Befreiung!« – »Jetzt kommen Lebensmittel!« – »Und neue Truppen!« – »Wir sind nicht mehr allein.«
    Auf die Stadt fielen Brandbomben, doch ein loderndes Feuer brannte in den Herzen der Menschen: Hoffnung, Glaube und Mut glühten mit erneuter Kraft und wärmten den kalten, verschneiten Tag.
    Jubelnd wurde der erste Zug begrüßt und am Mittag wurde bereits mit der Verteilung der Pakete begonnen. Onkel Wanja sorgte dafür, dass Oleg ziemlich rasch an die Reihe kam. Ein Stempel auf die Lebensmittelkarte, und das kostbare Päckchen lag in seinen Händen: Milch und Fleisch in Dosen und eine große Tafel Schokolade. Welche Herrlichkeiten! Ob er gleich etwas davon kostete? Oder sollte er alles aufheben, bis er zu Hause war und seine Mutter mitgenießen konnte? Abermals lief Oleg durch die Straßen von Leningrad. Er dachte an Nadja. Wenn die Eisenbahnstrecke eine Woche früher erobert worden wäre, hätte Nadja vielleicht noch gerettet werden können. Traurig ging Oleg mit seinem Päckchen an den ausgebrannten Häusern entlang. Für wie viele Menschen dieser Stadt kamen die Züge mit den Lebensmitteln zu spät!
    Plötzlich konnte er nicht weiter. Verwundert sah sich Oleg um. Überall strömten Leute auf den Trampelpfaden zwischen den Schneewällen zusammen. Von allen Seiten kamen sie. Mauernde Frauen unterbrachen die Arbeit und stiegen von ihren Leitern herunter. Eine seltsame Erregung hatte die Menschen erfasst. Was war los?
    In der Ferne kamen Soldaten anmarschiert. Waren das die Männer, die die Eisenbahnstrecke erobert hatten? Wollten ihnen die Menschen zujubeln wegen ihres Mutes? Eilig suchte sich Oleg ganz vorn einen Platz. Hinter ihm drängten sich immer mehr Leute.
    »Deutsche! Es sind Deutsche!« Es entstand eine tödliche Stille. Langsam fuhr ein Militärlastwagen vorbei. Auf der Ladefläche standen Soldaten der Roten Armee mit einem Maschinengewehr und Maschinenpistolen im Anschlag. Dahinter marschierten deutsche Kriegsgefangene in Viererreihen.
    Niemand sagte ein Wort. Nur die Marschtritte auf dem verharschten Schnee waren zu
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