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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Autoren: dtv
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keine verbrannten Dörfer, keine zerbombten Städte und keine Luftangriffe sind.‹ Konnte der Hauptmann wissen, ob Rettung unterwegs war? Wusste er vielleicht, wie lange der Krieg noch dauerte? Ein Hauptmann, der ins Hauptquartier nach Smolny sollte, war gewiss ein wichtiger Mann.
    »Wenn Sie mitkommen wollen, zeige ich Ihnen einen Teil des Weges. Ich muss auch in diese Richtung.«
    »Gern«, erwiderte der Hauptmann. Dann zeigte er auf die Pistole, die Oleg immer noch in der Hand hielt. »Weshalb läufst du damit herum?«
    »Ach . . . äh . . . nur so«, sagte Oleg. Er ließ die Pistole rasch in die Tasche rutschen – auf das Kotelett, das bereits gefroren war.
    »Wollen wir dann mal, kleiner Freund?«
    Oleg nickte. Nun fühlte er sich sicher. Mit einem Hauptmann der Roten Armee neben sich konnte ihm nichts passieren. Kurz drehte er sich noch einmal um. Die Straße lag dunkel und verlassen hinter ihnen.
    »Glauben Sie, dass der Krieg noch lange dauern wird?« Nach langem Zögern hatte Oleg die Frage dann doch gestellt. Es war gewiss eine sehr schwierige Frage, denn der Hauptmann war einen Augenblick stehen geblieben. Er hatte den Kopf geschüttelt und sich umgesehen, als ob die Antwort irgendwo auf den Mauern stünde.
    »Ich weiß es nicht, mein Junge.«
    »Werden sie uns bald befreien?«
    Der Hauptmann schwieg. ›Er wird doch nicht etwa meinen, dass ich Angst habe?‹, dachte Oleg. Deshalb sagte er schnell: »Ich will nämlich nicht evakuiert werden, wissen Sie?«
    Der Hauptmann lächelte und sah wieder genauso aus wie der deutsche Kommandant.
    »Vielleicht wäre es doch besser, wenn du dich evakuieren ließest, kleiner Freund. Die Belagerung kann noch eine Weile dauern.«
    »Warum?« Schließlich konnte doch jeden Tag ein Wunder geschehen.
    »Leningrad ist nicht der einzige Ort, an dem gekämpft wird.«
    Das wusste Oleg auch. Oft genug hatte er über die Kämpfe bei Moskau und Stalingrad und über die Partisanenheere in der Ukraine, in Bjelorussland und bei Smolensk sprechen hören. Alle arbeiteten für den Krieg: in den Fabriken, in Heer, Luftwaffe und Flotte. Aber wer arbeitete für den Frieden? Niemand wusste eine Antwort.
    Sie kamen an eine Kreuzung.
    »Hier muss ich rechts abbiegen«, sagte Oleg. »Sie müssengeradeaus. Ein Stück weiter stehen Posten. Die können Ihnen zeigen, wie Sie am schnellsten zum Hauptquartier kommen.«
    »Schönen Dank«, sagte der Hauptmann. Plötzlich beugte er sich zu Oleg hinunter. »Was noch geschehen wird, weiß kein Mensch. Aber es wird ein Tag kommen, an dem alle Kanonen schweigen. Dann werden wir Leningrad wieder aufbauen: Stein für Stein, Haus für Haus. Denk immer daran, kleiner Freund! Dieses Ziel musst du immer vor Augen haben. Das wird dir helfen.«
    In der Ferne schossen immer noch die deutschen Geschütze. Granate um Granate explodierte in dem Fabrikenviertel jenseits der Newa. Die Zerstörung ging weiter: Stein für Stein, Haus für Haus, Mensch für Mensch.
    Die Hand auf dem starr gefrorenen Kotelett, ging Oleg das letzte Stück nach Haus. Es war wahrscheinlich noch gerade genug Holz da, um das Kotelett für seine Mutter aufzutauen.

18
    »Oleg, bist du da?«
    »Ja!«, rief er. Er legte seine Fausthandschuhe auf das Tischchen im Flur und ging hinein. Im Zimmer war es kalt und dunkel. Er richtete seine Taschenlampe aufdas Bett. Bei dem plötzlichen Licht musste seine Mutter mit den Augen zwinkern. »Du kommst spät.«
    »Ich habe einen Hauptmann begleitet, der zum Hauptquartier musste, aber den Weg nicht kannte.«
    Olegs Mutter richtete sich ein wenig auf. Sie strich sich das Haar zurück. »Hast du etwas zu essen bekommen?«
    »Ja, es hat gut geschmeckt.«
    »Was gab es denn?«
    »Suppe und Brot und . . . zwei Kartoffeln«, erwiderte Oleg. Das Kotelett wollte er nicht erwähnen. Das sollte eine Überraschung bleiben.
    »Und das Theaterstück? War es schön?«
    Oleg überlegte eine Weile. Er konnte sich kaum erinnern. Das hübsche Mädchen, der strenge Onkel, der dumme Diener, das waren Menschen aus einer anderen Welt gewesen, die eine Menge Aufhebens um rein gar nichts gemacht hatten.
    »Es war nicht besonders!« Trotzdem, überlegte Oleg, würde er den Saal voller Kinder, die Mäntel an- und Mützen aufhatten und während der ganzen Vorstellung nur an das Essen denken konnten, niemals vergessen. Und auch an den Rückweg würde er sich sein Leben lang erinnern. Aber das Kotelett und das Brot hatte er sicher nach Haus gebracht. Er freute sich auf das, was nun
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