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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Autoren: dtv
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Tischnachbar blickte voller Neid darauf. Dann aß er schnell, ohne aufzuschauen – den Arm um den Teller gelegt, als fürchte er, es könne ihm jemand etwas davon wegnehmen.
    Die beiden Mädchen, die Oleg auf der anderen Seite des Tisches gegenübersaßen, schlugen das Kreuz. Das war schon recht, denn es war wirklich gute Suppe.Oleg sprach im Geist vor dem vollen Teller ein Dankgebet. Er aß langsam, um den Genuss möglichst lange zu haben.
    Es war wirklich eine gute Suppe! Schön heiß und man schmeckte die fette Fleischbrühe. Beim dritten Löffel dachte Oleg an seine Mutter. Wie schade, dass sie nichts davon bekam. Sie hatte recht gehabt, als sie sagte, er solle gehen. Über Evakuieren oder Verschicken war noch kein Wort gefallen. Hatte er sich umsonst Sorgen gemacht? Und hatte er sich umsonst eingebildet, dass seine Mutter allein – ohne dass er dabei war – sterben wollte? Vielleicht starb sie ja gar nicht. Oleg verspürte große Erleichterung, als er begriff, dass er sich unnötig Sorgen gemacht hatte. Glücklicher, als er sich seit Langem gefühlt hatte, beugte sich Oleg über seinen Teller und löffelte die Suppe.
    »Wir kriegen noch mehr!«, sagte der Junge neben ihm, als die Frauen die leeren Suppenteller abräumten.
    »Das glaube ich auch«, erwiderte Oleg. Alle am Tisch hatten die Suppe schweigend gegessen. Doch nun war es schön, reden zu können. Die heiße Suppe hatte ein wohliges Gefühl von Verbundenheit und Freundschaft geweckt. Ob er dem Jungen neben sich davon erzählen sollte, dass er im Niemandsland gewesen war? Doch sein Nachbar kam ihm zuvor.
    »Mein Bruder kämpft bei den Partisanen«, sagte er leise.
    »Dann ist er bestimmt sehr stark«, entgegnete Oleg voller Bewunderung.
    Über die Partisanen hatte er schon viele Geschichtengehört. Sie lebten in kleinen Gruppen in den Wäldern, mitten zwischen den deutschen Linien. Heimlich kamen sie aus ihren Verstecken, um Straßen zu zerstören, Brücken zu sprengen, Vorräte anzuzünden oder zu kämpfen.
    »Stark wie ein Löwe. Er fürchtet sich vor niemand«, sagte der Junge stolz. »Später gehe ich auch zu den Partisanen.«
    »Wenn wir groß sind, ist der Krieg vielleicht vorbei«, erwiderte Oleg.
    »Hoffentlich nicht!« Der Junge beugte sich zu Oleg hinüber. »Später will ich mit meinem Bruder zusammen . . .«
    Was er später mit seinem Bruder zusammen wollte, erfuhr Oleg nicht mehr. Es wurde Brot ausgeteilt. Jeder bekam zwei Scheiben neben seinen Teller gelegt. Schüsseln mit Fleisch und Kartoffeln machten die Runde.
    Plötzlich war es still am Tisch. Staunend und voller Ehrfurcht betrachteten die Kinder das Kotelett und die beiden Kartoffeln, die man ihnen auf den Teller legte. Doch gleich danach glitten die Blicke verstohlen nach links und rechts, um die Portionen zu vergleichen.
    In der Ferne hörte Oleg das Dröhnen von Geschützen. Es wurde heftig geschossen. Ob es wieder einen Angriff gab?
    »Weiteressen! Die andern warten.« Eine Frau mit Armbinde tippte Oleg auf die Schulter. Hastig beugte sich Oleg über den Teller. Aber als er sein Fleisch schneiden wollte, überlegte er, dass er das Kotelettund eine Scheibe Brot für seine Mutter aufheben könnte. Er suchte und fand in der Manteltasche ein Stück Papier. Vorsichtig spähte er in die Runde, ob jemand beobachtete, was er tat. Dann griff er nach dem Kotelett. Mit einer raschen Bewegung hatte er es auf dem Papier. Das Brot legte er obenauf.
    Ob es jemand gesehen hatte? Das Mädchen ihm gegenüber schaute ihn prüfend an. Oleg spürte, dass er rot wurde. Hastig faltete er das Papier zusammen und ließ das Päckchen in die Manteltasche gleiten. Neben die alte Dienstpistole seines Vaters. Er warf einen schnellen Blick auf das Mädchen gegenüber. Zum Glück achtete sie nicht mehr auf ihn. Auch sie hatte jetzt beide Hände unter dem Tisch. Das zur Hälfte gegessene Kotelett war von ihrem Teller verschwunden. Hastig stach Oleg die Gabel in seine Kartoffel und begann zu essen. Es war ein herrliches Gefühl, Fleisch und Brot für seine Mutter in der Tasche zu haben. Es würde ihr Kraft geben. Das wusste er genau. Wenn seine Mutter nur am Leben blieb und wieder stark und widerstandsfähig wurde, dann brauchte er nicht zu Olga Petrowna nach Swerdlowsk evakuiert zu werden.

17
    Als sie mit dem Essen fertig waren, hielt Onkel Wanja eine kurze Ansprache. Er sagte: »Leningrad wird jetzt seit fünfhundert Tagen von den Deutschen belagert. Aber wir haben bisher standgehalten und werden weiter
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