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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Autoren: dtv
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geschehen sollte.
    »Jetzt musst du dich umdrehen, Mutter. Zur Wand!« »Warum?« Sie sah ihn verwundert an.
    »Ich habe eine Überraschung für dich.«
    »Aber Junge!« Das Erstaunen in ihren Augen wuchs. »Nun dreh dich schon um!«, sagte Oleg rasch. Dochseine Mutter zögerte. Im Schein der Taschenlampe sah es aus, als ob sie schon Bescheid wisse oder als ob sie begriffe, worin die Überraschung bestehen würde.
    ›Sie soll bloß nicht sagen, sie hätte keinen Hunger!‹, dachte Oleg. Jeder hatte Hunger. Die Brotration betrug 125 Gramm pro Tag. Nur die Männer, die schwere Arbeit taten, erhielten das Doppelte. Trotzdem brachen auch sie in den Fabriken hinter ihren Maschinen zusammen. Seine Mutter durfte nicht sagen, sie hätte keinen Hunger, um das Fleisch für ihn aufzusparen.
    Sie sahen sich einen Augenblick lang an. Es war gerade, als ob seine Mutter jetzt durch ihn hindurchschaute, als ob sie das Kotelett in seiner Tasche erblicke. Dann lächelte sie.
    »Nun, da bin ich aber neugierig«, sagte sie und drehte sich zur Wand.
    Oleg ging zu dem kleinen Notofen in der Zimmerecke. Er drückte eine alte Zeitung zusammen und nahm die letzten Stückchen Holz aus dem Korb. Er strich ein Streichholz an.
    Aus dem Küchenschrank nahm er die kleine Pfanne. Das Ding war völlig verstaubt, weil es monatelang nicht mehr benutzt worden war. Beim Licht der Taschenlampe rieb er die Pfanne mit einem Stück Zeitung sauber. Das Holz fing an zu knistern. Oleg streckte die kalten Hände nach den Flammen aus, die durch den Ofen tanzten. Dann setzte er die Pfanne aufs Feuer.
    Das Papier war an dem Kotelett festgefroren. Deshalb legte Oleg das ganze Päckchen in die Pfanne. Wenn esauftaute, würde er Papier und Brot von dem Fleisch trennen können. Er nahm einen Teller aus dem Schrank, holte Messer und Gabel heraus und füllte das Glas seiner Mutter mit Wasser aus dem Eimer in der Zimmerecke. Das war nicht ganz leicht, weil eine dicke Eisschicht auf dem Wasser lag, die er erst hinunterdrücken musste, bevor er Wasser schöpfen konnte.
    Draußen dröhnten die Geschütze. Draußen lag die verwundete Stadt. Draußen kämpfte Leningrad verbissen und unerschütterlich um die Freiheit – ein Kampf, der bereits fünfhundert Tage dauerte. Doch die Welt draußen hatte Oleg völlig vergessen. Auf dem kleinen Ofen wärmte er das Kotelett für seine Mutter. Er brauchte seine ganze Sorgfalt und Aufmerksamkeit dazu, dass das Brot nicht anbrannte und das Fleisch nicht zu braun wurde.
    Das Kotelett war mehr, viel mehr als ein kleines Stückchen Fleisch. Für Oleg war es eine Wundermedizin, die seine Mutter heilen, sie wieder auf die Beine bringen sollte, damit er nicht evakuiert werden musste. Voller Besorgnis und Aufmerksamkeit stand er vor dem Ofen. Das Holz knisterte. Das Fleisch in der Pfanne fing an zu zischen und herrlicher Duft erfüllte das Zimmer. Oleg fühlte sich sehr dankbar und glücklich.
    Alles war bereit. Beim Licht der Taschenlampe hatte Oleg den Tisch neben dem Bett ein wenig aufgeräumt. Das Glas Wasser hatte er dann daraufgestellt.
    Seine Mutter lag noch immer mit dem Gesicht zur Wand. Sie bewegte sich nicht. Natürlich hatte sie die Geräusche gehört, den Geruch wahrgenommen, aber kein Wort gesagt.
    Das Kotelett lag auf dem Teller. Oleg prüfte es mit dem Finger. Es war schön warm geworden. Langsam ging er vom Büfett zum Bett. Wenn seine Mutter gegessen hatte, würde alles anders werden. Sollte er die Kerze anzünden, weil es doch eigentlich ein Fest war? Er tat es.
    Während das Dröhnen der Geschütze immer heftiger wurde, überblickte Oleg die Festtafel: eine brennende Kerze, ein Teller mit Brot und ein Kotelett.
    »Mutter, jetzt dreh dich um!«
    Seine Mutter richtete sich ein wenig auf. Unauffällig und schnell fuhr sie sich mit der Bettdecke über das Gesicht. Beim flackernden Licht der Kerze sah Oleg zum Glück nicht, dass der Bettbezug von ihren Tränen nass war.
    Seine Mutter drehte sich um und schaute. Einen Augenblick blieb es still. Olegs Mutter biss sich auf die Lippe. Sie wollte etwas sagen, konnte es jedoch nicht. Sie blinzelte mit den Augen, als könne sie nicht glauben, was sie sah.
    »Für dich!«, sagte Oleg strahlend.
    »Junge . . . mein Junge!«, sagte seine Mutter. Und noch einmal: »Mein Junge . . .«
    »Lass es nicht kalt werden!«, mahnte Oleg. Er nickte ihr zu. Seine Mutter öffnete den Mund. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle sie gegen dieses Essen protestieren, das sich Oleg vom Mund
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