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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Autoren: dtv
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sah, wie ein Strom von Kindern in den Theatereingang ging. Manche wurden von ihren Müttern gebracht, die meisten kamen allein. Eine freundliche Frau mit einer Armbinde half ihnen durch die Tür ins Innere.
    In langer Reihe kamen die Kinder des Waisenhauses anmarschiert mit ihren Erzieherinnen, die wie Schäferinnen Mühe hatten, ihre Lämmer beisammenzuhalten. In ihrer Mitte sah er Iwan, der mit einem kleinen Mädchen Hand in Hand ging. Iwan hatte eine viel zu große Mütze auf. Oleg hätte ihn gern gefragt, wie es ihm im Waisenhaus gefiel, aber das durfte er ja nicht. Die Waisen verschwanden im Eingang. Sollten sie auch alle evakuiert werden?
    Nach einer Weile kamen Oleg Zweifel. Er betrachtete die Kinder, die lachend und aufgeregt ins Theater hineingingen. Er sah sich genau den Abschied an, den Mütter von Sohn oder Tochter nahmen. Das sah ganz und gar nicht so aus, als ob es ein Abschied fürlange Zeit wäre. Ob sie nach der Vorstellung wirklich wieder nach Hause gehen durften? Oder gab es gar noch eine Mahlzeit hinterher? Oleg lief das Wasser im Mund zusammen. Er hatte die Kälte vergessen, musste jedoch ständig an Essen denken. Ob er es wagen sollte?
    Vorsichtig ging er über die Straße. Dicht neben dem Eingang blieb er stehen. Roch es dort drinnen nach Suppe? Eine alte Frau, die Schnee räumte, ruhte einen Augenblick, auf den Besen gestützt, aus und nickte ihm lächelnd zu.
    »Willst du nicht auch hinein?«
    Oleg wusste nicht, was er erwidern sollte. Die Frau mit der Armbinde kam auf ihn zu. »Hast du eine Karte?« Oleg zögerte immer noch. Zum letzten Mal wog er die Aussicht auf Essen gegen die auf die Evakuierung gegeneinander ab. Schließlich holte er seine Karte heraus und zeigte sie der Frau mit der Armbinde.
    »Dann komm doch herein, Junge!«
    Er spürte eine Hand im Rücken, die ihn sanft nach drinnen schob.
    Oleg erhielt einen Platz mitten im Saal. Es brannten einzelne große Lampen. Er verstand nicht, wie das möglich war. Neben ihm saß ein Mädchen, das bestimmt für die Theatervorstellung das schönste Kleid angezogen hatte. Oleg sah ein Stück von dem roten Stoff.
    ›Das hätte sie wirklich nicht zu tun brauchen‹, dachte Oleg. Dazu war es zu kalt im Schauspielhaus, sie musste ja doch den Mantel anbehalten.
    Das Mädchen tat ihm leid, weil nun niemand ihr schönes Kleid sehen konnte.
    Auf der andern Seite saß ein Junge, der genauso eine Mütze aufhatte wie Iwan. Er starrte störrisch und düster vor sich hin. Mit dem konnte man sicher nicht gemütlich palavern! Oleg sah sich um, ob er Iwan irgendwo entdeckte. Aber es waren so viele Kinder, so viele Mützen. Ob sie nachher etwas zu essen bekamen? Oleg roch nichts. Hinter ihm kicherten zwei Mädchen. Er blickte sich um und sah gerade noch, wie die eine von ihnen, eine Blonde mit braunen Augen, die Hand ausstreckte und mit einem schnellen Griff die Mütze vom Kopf seines Nachbarn riss.
    »Gib her.« Mit einem Ruck war der Junge aufgesprungen. Sein Kopf war völlig kahl geschoren und mit dickem Schorf bedeckt. Deshalb war er so wütend geworden. Die Mädchen wollten die Mütze weitergeben – durch die ganze lange Reihe. Aber der Junge hob wütend die Faust und schlug zu. Die Mädchen schrien. Eine Frau mit Armbinde kam hastig herbeigelaufen und zog den Jungen weg. Sie führte ihn aus dem Saal – ohne seine Mütze. Ob er nun auch kein Essen bekam? Oleg warf einen Blick auf die Mädchen. Die kicherten schon wieder. Er hätte sie am liebsten angespuckt, diese dummen Puten. Doch gerade in diesem Augenblick gingen die Lampen aus. Langsam öffnete sich der Vorhang. Auf der Bühne war ein vornehmer Salon aus der Zeit vor der Revolution aufgebaut. Papierblumen standen auf der Fensterbank und durch ein Fenster hinten sah man blauen Himmel, von dem die Sonne ins Zimmer schien. Aber die Schauspielerliefen in dicken Mänteln auf der Bühne herum. Vorne auf der Bühne wird es wohl auch kalt sein, dachte Oleg. Er verstand gut, dass die Schauspieler jetzt nicht in Sommersachen herumlaufen konnten. Aber diese dicken Mäntel machten das Spiel viel weniger echt. Oleg versuchte der Vorstellung zu folgen, aber es gelang ihm nicht.
    Das Mädchen neben ihm lutschte am Daumen. Vor ihm flüsterte ein kleiner Junge seinem älteren Bruder zu: »Ob wir gleich was zu essen kriegen?«
    Die Schauspieler und Schauspielerinnen auf der Bühne taten, was sie konnten. Ein ganzes Theater voller Kinder sah zu, aber die meisten verstanden nicht, weshalb sich die Schauspieler über
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