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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Autoren: dtv
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auf dem Nadjas Tagebuch noch aufgeschlagen lag. Was hätte ihm Nadja geraten, wenn sie am Leben geblieben wäre? Verstecken? Aber jetzt war es zu kalt, als dass man sich irgendwo verstecken konnte. Seine Mutteranflehen? Aber was, wenn seine Mutter wirklich sterben würde und dabei allein sein wollte?
    »Oleg?«
    Oleg sah seine Mutter an. Die Angst und Besorgnis waren zum Glück aus ihren Augen verschwunden. Sie lächelte, als ob sie alles verstünde.
    »Du willst Nadjas wegen nicht? Das kann ich gut begreifen.«
    Sie sagte es ehrfürchtig und leise, ohne ihn anzusehen. »Soll ich dir aus ihrem Tagebuch vorlesen?«
    Oleg schüttelte fast unmerklich den Kopf. Jetzt glaubte seine Mutter doch wahrhaftig, dass er aus einem Gefühl der Trauer um Nadja nicht ins Theater wollte. Er schämte sich, dass ihm dieser Gedanke überhaupt nicht gekommen war.
    Er griff nach dem Tagebuch und brachte es seiner Mutter. Verwirrt von den widersprüchlichsten Gefühlen und Gedanken setzte er sich auf den Rand ihres Bettes. Ob seine Mutter bis zu den letzten Seiten kommen würde? Ob die sehr traurig und bedrückend waren? Ein schwerer Laster fuhr dröhnend durch die Straßen. Mit Schnee? Mit Trümmerschutt? Mit Wasser? Oder war es der große Wagen?
    Seine Mutter begann mit leiser Stimme vorzulesen.
    Die Dämmerung kroch langsam ins Zimmer. Ob sie mit dem Tagebuch zu Ende kamen, bevor es dunkel wurde? Oleg hörte zu und erlebte die kleine große Welt von Nadja Morosowa. Sie hatte über ihren Vater, ihre Mutter und über Serjoscha geschrieben, über die Leute in der Straße, über Leningrad und den Krieg.
    Einige Male fühlte Oleg ein Würgen im Hals und hatte Mühe, die Tränen hinunterzuschlucken. Einige Male lächelte er, wenn Nadjas Gedanken wie Flöhe aufs Papier gesprungen waren, mit Worten, die man nicht so bald wieder vergaß. Olegs Mutter las weiter aus dem Tagebuch, Seite um Seite. Manchmal waren Tintenkleckse zwischen den Zeilen. Nadja hatte komische Zeichnungen daraus gemacht: einen Elefanten, einen bärtigen Zwerg oder drollige Menschengesichter. Olegs Mutter war bis zu den letzten Seiten gelangt.
    »Heute ist mein Vater gestorben. Ich wusste, dass es geschehen würde, aber nicht, dass es so schnell gehen sollte. Weil Vater und Serjoscha noch schliefen (Serjoscha hat Lungenentzündung und ist sehr krank), sind Mutter und ich heute Morgen auf Zehenspitzen durch das Zimmer gegangen.
    Plötzlich hat mich mein Vater gerufen.
    ›Nadja!‹
    Ich ging an sein Bett. Er fasste nach meiner Hand und sah mich an. Seine Augen sahen nicht mehr bekümmert aus. Dann atmete er tief und nickte fast unmerklich. Er war schon tot, als Mutter an sein Bett kam.
    Er war der beste Vater der Welt.«
    Die Mutter blätterte um und Oleg sah, dass es die letzte Seite war. Mitten auf der folgenden Seite hörten die Zeilen mit einem harten Strich auf . . .
    »Am Morgen ist Serjoscha nicht aufgewacht. In der Nacht, als wir beide nicht schlafen konnten, hat er mir erzählt, wo wir etwas zu essen finden könnten . . .«
    An diesem Tag waren sie gemeinsam zur Garküche gegangen, überlegte Oleg. Danach hatten sie den langen Weg ins Niemandsland unternommen. Nadja hattenatürlich nicht mehr die Kraft gehabt, darüber zu schreiben. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, was in den letzten Tagen geschehen war. Oleg sah nun deutlich vor sich, wie Nadja schreibend am Tisch gesessen hatte.
    Es wurde dunkel. Olegs Mutter musste das Tagebuch dicht vor die Augen halten, um die letzten Zeilen noch lesen zu können.
    ». . . Mutter ist heute Nacht gestorben und ich habe es nicht einmal gemerkt. Nun bin ich allein . . . zu müde, alles zu erzählen . . . Draußen schneit es. Leningrad muss nun in einem weißen Mantel voller Risse kämpfen. Ich weiß, warum: Die Freiheit kommt erst, wenn alle glücklich sind.
    Es ist nicht schwer zu sterben, wenn es auch schön gewesen wäre zu leben.
    Hoffentlich bleibt Oleg am Leben.
    Es wird heller, immer heller.
    Ein Weg führt durch die tanzenden Schneeflocken. Millionen von Schneeflocken, die alle ein Gesicht haben: Vater, Mutter, Serjoscha.
    Ich habe keine Angst mehr.«
    Olegs Mutter schwieg. Es blieb lange still im Zimmer. Erst später, viel später, als er schon lange im Bett lag, dachte Oleg endlich wieder an die Karte, die gekommen war. Sollte er gehen? Was hätte Nadja gesagt, wenn sie noch am Leben wäre?
    Aber Nadja war tot. Trotzdem hatte Oleg das Gefühl, dass sie noch ganz nahe bei ihm war.
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    *  Baba =
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