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Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)

Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)

Titel: Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)
Autoren: Cendrine Wolf , Anne Plichota
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sie hatte es nicht verlernt.
    Doch auch andere Erinnerungen kamen nach oben, wie Luftblasen, die vom Grund ihres Gedächtnisses aufstiegen. Gus rollte neben ihr her, hagerer und größer, als sie ihn in Erinnerung hatte, aber noch genauso gut aussehend. Oder sah er sogar noch besser aus als früher? Ja, ganz bestimmt.
    In diesem Augenblick kehrte die Erinnerung an ihre schönsten Momente zurück, jene Bilder, die einem ewig im Gedächtnis und im Herzen bleiben. Dieser Moment war noch magischer als die Tatsache, dass sie eine Huldvolle war und deshalb fliegen und sich unsichtbar machen konnte. Denn dass sie Gus und ihre Mutter lebend im Haus am Bigtoe Square wiedergetroffen hatte, kam einem Wunder gleich. Genauso wie es vor vierundzwanzig Stunden noch undenkbar gewesen wäre, auf Inlineskates neben ihrem Freund herzufahren. Und doch taten sie jetzt genau das, Seite an Seite wie früher.

    »Wie deprimierend London jetzt aussieht.«
    Die zwei fuhren The Mall und den St. James’s Park entlang, und in Oksa kämpfte die Nostalgie mit dem Entsetzen. Die Stadt hatte schwer gelitten, das war überall zu erkennen.
    »Dabei ist es jetzt schon viel besser«, bemerkte Gus. »Du hättest mal sehen sollen, was hier los war, als wir aus der Wüste Gobi zurückkamen.«
    Oksa blickte sich um. Alles war ihr vertraut, doch man hatte den Eindruck, dass die Stadt vorzeitig gealtert war. Die Fassaden waren schmutzig und teilweise zerstört, jedes Gebäude hatte Risse, die Gehsteige waren geborsten, die Bäume hatten einen Teil ihrer Äste verloren. Das ehemals makellose rote Pflaster der Prachtstraße The Mall war ein wirres Mosaik und sah aus, als wäre es von einer hässlichen Hautkrankheit befallen. Aus der Ferne bezeugte Big Ben, einäugig, seit er drei seiner vier Uhren verloren hatte, die Zerstörung, welche die Unwetter hinterlassen hatten. Vom Buckingham Palace bis zum kleinsten Wohnhaus war nichts unversehrt davongekommen.
    Als Oksa merkte, dass Gus ihre alte Schule, St.-Proximus, ansteuerte, schlug ihr Herz schneller. Die schweren Tore am Eingang waren verschwunden. Die beiden betraten den kopfsteingepflasterten Hof und tauschten ihre Inlineskates gegen Turnschuhe.
    »Die Schule ist wegen Bauarbeiten geschlossen«, erzählte Gus. »Seit den Unwettern ist das Gebäude einsturzgefährdet.«
    Sie setzten sich auf den Rand des Springbrunnens im Hof und betrachteten schweigend das Schulhaus. Der Kreuzgang war zur Hälfte eingestürzt, die Statuen und Wasserspeier abgebrochen, die herabgestürzten Dachziegel bildeten einen roten Teppich aus Schutt auf dem Boden, die Fensterscheiben waren kaputt.
    »Es war mal so schön«, murmelte Oksa. »Weißt du noch?«
    »Klar.«
    Gus seufzte und stand mit einem Ruck auf.
    »Komm, ich muss dir was zeigen.«
    Ihre Schritte knirschten auf dem Schutt. Oksa hatte das Gefühl, auf unzählige kleine Knochen zu treten.
    »Die Krypta?«
    »Ja. Sie ist ganz unverändert, du wirst sehen.«
    Oksa hätte ihn fast darauf hingewiesen, dass sich, ganz im Gegenteil, sehr viel verändert hatte. Angefangen bei ihm selbst, wie er jetzt, ohne zu zögern, die kaputte Tür der kleinen Kapelle aufschob. Als sie das erste Mal hier gewesen waren, hatte er sich ziemlich gefürchtet! Aber bestimmt erinnerte Gus sich in diesem Augenblick ebenfalls daran.
    Neugierig folgte ihm Oksa. Sie mussten über ein paar Stühle und umgefallene Statuen hinwegsteigen, um zur Krypta zu gelangen, die auf wundersame Weise intakt geblieben war. Es waren sogar noch einige Kerzenstummel übrig. Gus hob eines der am Boden verstreut liegenden Streichhölzer auf, rieb es an der Wand und zündete einen rußgeschwärzten Docht an.
    »So!«, sagte er. »Jetzt können wir ungestört reden.«

In aller Offenheit
    D u bildest dir irgendwelchen Unsinn ein, Oksa.«
    Gus lehnte sich an den Sockel einer Statue und schob die Hände in die Hosentaschen.
    »Wieso einbilden? Nein, ich glaube das, was ich sehe.«
    Gus runzelte die Stirn.
    »Kannst du etwas genauer werden?«, bat er.
    »Kukka … in meinem Zimmer … das heißt in deinem Zimmer.«
    »Okay«, seufzte Gus. »Es dürfte dir aber doch nicht entgangen sein, dass wir ein paar Sachen verändert haben. Zum Beispiel, dass ich auf einer Matratze schlafe und ein Feldbett in der entgegengesetzten Ecke des Zimmers steht.«
    Seine etwas heisere Stimme hallte Oksa eigenartig in den Ohren.
    »In dem Bett schläft Kukka«, fuhr er fort. »Sie schläft nicht bei mir, falls dich das verärgert haben sollte. Was
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