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Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Titel: Oksa Pollock. Die Entschwundenen
Autoren: A Plichota
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Display des Mobiltelefons zu sehen war.
    »Was soll denn das sein?«
    Hastig fuhr Pavel seinen Computer hoch und überspielte das Foto auf den großen Bildschirm, sodass alle es sehen konnten.
    Kaum war das Bild erschienen, rief Zoé aus: »Das ist ja meine Großmutter! Das ist Remineszens!«
    »Bist du sicher?«, fragte Dragomira.
    »Ja!«
    Alle blickten gebannt auf den Bildschirm. Ein Gemälde zeigte das Gesicht und die obere Körperhälfte einer Frau von ungefähr siebzig Jahren. Sie blickte den Betrachter geradewegs an und in ihren weit aufgerissenen hellblauen Augen spiegelten sich Verzweiflung und Furcht. Sie wirkte zierlich, war dunkel gekleidet, und ihre feinen Züge hatten etwas Ergreifendes.
    »Das ist meine Großmutter«, wiederholte Zoé. Ihre Stimme war heiser vor Erschöpfung und Aufregung.
    Dragomira und Abakum sahen einander ungläubig an und schienen im selben Augenblick auf den gleichen Gedanken zu kommen, denn plötzlich riefen sie wie aus einem Mund: »Die Eingemäldung!«

Ein Ankömmling, den keiner erwartet hat
    G
us kämpfte auf dem wurmstichigen Sims im Inneren des Gemäldes um sein Gleichgewicht. Vor ein paar Sekunden hatte er noch im Chemiesaal der St.-Proximus-Schule gestanden, vor diesem seltsamen Gemälde, aus dem eine ergreifend traurige, leidvolle Stimme erklungen war. Dann hatte ihn das eigenartige Porträt mit seinen verschwimmenden, tanzenden Lichtreflexen erfasst und eingesogen … Genau. So unglaublich es klang, aber genau so war es passiert. Und jetzt war er auf der anderen Seite des Gemäldes, innen drin, und stand starr vor Angst auf dem schmalen Rand des Holzrahmens, der unter seinen Füßen zu bröckeln schien.
    »Das Gemälde«, murmelte er. »Ich bin im Inneren des Gemäldes gelandet.«
    Vor sich konnte er nur eine dunkle, unbewegliche Masse ausmachen, die ihm fürchterliche Angst einjagte. Der Rahmen des Gemäldes hatte so riesenhafte Ausmaße angenommen, dass er sich selbst darin auf einmal winzig klein vorkam. Er drehte sich vorsichtig um und reckte sich, um die straffe Leinwand zu berühren. Mit etwas Glück konnte er vielleicht wieder nach draußen gelangen und diesem Albtraum entkommen. Mit den Fingerspitzen erreichte er die Leinwand und stöhnte enttäuscht auf: Der Stoff hatte sich in einen Vorhang aus eisigem Nebel verwandelt, so wenig greifbar wie die Luft in einem Kühlraum.
    »Ist hier jemand?«, fragte er mit erstickter Stimme in das Dunkel hinein. »Kann mich jemand hören?«
    Seine Stimme klang seltsam matt, als ob er sich in einem rundum ausgepolsterten Raum befände. Noch nie war ihm eine solche Stille begegnet. Er spürte, wie ein Stück Holz aus dem Rahmen unter seinem Gewicht abbrach und herabfiel. Angespannt wartete er auf den Aufprall des Holzstückchens auf dem Boden, um ungefähr einschätzen zu können, wie tief das Dunkel unter ihm war. Die Sekunden verstrichen, zehn, zwanzig, dreißig, ohne dass auch nur das geringste Geräusch zu hören war. Die Tiefe unter ihm schien bodenlos zu sein. Gus schluckte mühsam. Er spürte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach. Ein Tropfen lief ihm von der Stirn ins Auge. Unwillkürlich hob er die Hand zum Gesicht, um sich das Auge zu reiben. Die Bewegung raubte ihm das Gleichgewicht, und es kam, wie es kommen musste: Seine Hände suchten vergeblich nach einem Halt, und mit einem Verzweiflungsschrei stürzte er ins Leere.
    Der Sturz schien kein Ende zu nehmen – als ob die Zeit nicht mehr existierte. In vollkommener Dunkelheit fiel Gus einem unbekannten Ziel entgegen, ohne dass er dabei seine Bewegungen hätte steuern können. Er wusste, dass er fiel, doch er spürte nichts. Eine unwiderstehliche Kraft zog ihn in die Tiefe, allerdings mit einer eigenartigen Leichtigkeit. Als ob man eine Feder losließ und diese unendlich langsam zu Boden schwebte. Fiel er mit dem Kopf voraus? Aufrecht oder quer? Er konnte es nicht sagen, denn er hatte keinerlei Körperwahrnehmung mehr. Eigentlich war der Zustand faszinierend, aber Gus hatte trotzdem panische Angst. Vielleicht war er ja tot? Würde er womöglich nun bis in alle Ewigkeit in diesem Dunkel herumschweben?
    Endlich spürte er, wie er auf etwas Weichem landete. Es fühlte sich an wie ein Daunenkissen. Außer sich vor Furcht hielt er den Atem an und versuchte mit zusammengekniffenen Augen die Schwärze um ihn zu durchdringen. Noch nie hatte er eine so vollkommene Dunkelheit erlebt. Vielleicht war das ja, was man die absolute Finsternis nannte. Sie kam ihm beinahe greifbar
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