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Oksa Pollock. Der Treubrüchige

Oksa Pollock. Der Treubrüchige

Titel: Oksa Pollock. Der Treubrüchige
Autoren: A Plichota
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unweigerlich an Diamanten denken ließen. Andreas führte die Gruppe mit leichten Schritten an. Er nahm hier einen Abzweig nach rechts, dort eine Gabelung nach links, bis die Rette-sich-wer-kann ein beunruhigendes Gefühl der Orientierungslosigkeit beschlich. Der Schlupfwinkel der Mauerwandler war ein richtiges Labyrinth von buchstäblich beängstigender Schönheit.
    Nach ungefähr zehn Minuten und unzähligen Abzweigungen wurde das Licht so grell, dass Oksa, Abakum und Pavel sich zum Schutz die Hand vor die Augen halten mussten. Nur die Handkräftigen schien das helle Glitzern, das von den Steinen reflektiert wurde, nicht weiter zu beeinträchtigen.
    »Sieht so aus, als ob wir da wären«, sagte Abakum zu seinen Gefährten.
    Oksa sah ihn fragend an. Dann fiel ihr wieder ein, was Naftali ihnen vor einigen Monaten erzählt hatte: Die Durchscheinenden – der fünfte Stamm – lebten in einem Gebiet unweit des Unzugänglichen, bis die Alterslosen Feen sie mit dem Bann der Abgeschiedenheit belegten, als Strafe dafür, dass sie Jagd auf junge Verliebte machten, um ihnen ihre Leidenschaft zu rauben. Seither hausten sie, zur Einsamkeit verdammt, im Grellen Land.
    Das grelle Licht war ihr Gefängniswärter, und im Lauf der Jahrhunderte passte sich ihr Stoffwechsel diesen Bedingungen an. Das Ergebnis konnte Oksa nun mit eigenen Augen sehen. Vor ihr stand der letzte Durchscheinende Edefias in seiner ganzen Abscheulichkeit. Oksa erfasste ein solches Entsetzen, dass ihr erster Impuls war wegzulaufen – so weit fort wie möglich von diesem menschlichen Ungeheuer. Doch ihr fehlte schlicht die Kraft dafür. Wie aus der Ferne hörte sie Andreas’ ölige Stimme, als er die Genialität seines Vaters beschrieb, der ein komplexes Beleuchtungssystem entworfen hatte, um das Leben dieses letzten Durchscheinenden zu retten. Ihr Instinkt sagte Oksa, dass sie die Kreatur vor sich um keinen Preis länger ansehen sollte. Doch ihre Neugier und die Faszination des Grauens waren stärker.
    »Bin entzückt, Eure Bekanntschaft zu machen, Junge Huldvolle«, sagte der Durchscheinende mit rauer, fast knirschender Stimme.
    Er sah noch viel abstoßender aus, als Oksa es sich bei Naftalis Erzählung vorgestellt hatte. Er war ungefähr so groß wie sie selbst, und auf seiner durchsichtig weißen Haut glänzte eine dicke Fettschicht, die als Schutz gegen das grelle Licht diente. Doch das Entsetzlichste waren nicht seine milchigen Augen oder die nicht vorhandene Nase und die fehlenden Ohrmuscheln, sondern das ganze Geschehen unter seiner Haut, das Blubbern und Sprudeln, das sie infolge ihrer Vergiftung hören, das sie aber vor allem sehen konnte! Die Adern, in denen Blut schwarz wie Tinte rann, die pulsierenden Organe, das schwarze, vor Erregung rasend schnell schlagende Herz – alles war zu sehen.
    »Das ist ja … ekelhaft!«, stammelte sie und konnte doch die Augen nicht abwenden.
    »Nun sieh einer an, ist das vielleicht eine Art, seinen Retter zu begrüßen?«, fragte Ocious mit einem süffisanten Lächeln. »Mein lieber Pavel, du hast deine Tochter ziemlich schlecht erzogen!«
    »Das macht mir nichts aus«, mischte sich der Durchscheinende ein. »Ich bin es gewöhnt, derlei Reaktionen hervorzurufen.«
    Er näherte sich Oksa und kam so dicht heran, dass sie seinen muffigen Geruch wahrnehmen konnte: eine widerliche Mischung aus Staub, faulen Eiern und Knoblauch. Sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten, und spürte zu ihrer Überraschung, dass er sie mit sich fortriss, ohne dass sie dem widerstehen konnte. Ein Gefühl des Gefangenseins umhüllte sie wie klebriger Leim, und eine Schwere legte sich auf all ihre Glieder und ihr Denken. Es war so schwül hier drin, sie war müde, verzweifelt, dem Aufgeben nahe, so nahe …
    »Bravo, Ocious, du hast dein Versprechen gehalten. Die Junge Huldvolle wird köstlich sein«, murmelte der Durchscheinende und leckte sich mit seiner kurzen schwarzen Zunge die Lippen oder was davon übrig war. »Was für eine Leidenschaft in dem kleinen Herzen!«
    Bei diesen Worten traten Abakum und Pavel zwischen Oksa und den Durchscheinenden. Zoé kam einen Schritt nach vorn. Ihr Gesicht war aschfahl und mit Schweiß überzogen.
    »Nicht die Junge Huldvolle ist für Sie vorgesehen«, sagte sie mit stockender Stimme. »Ich bin es.«
    Oksa entfuhr ein Stöhnen. Der Durchscheinende wandte sich zu Zoé und musterte sie neugierig. Als er merkte, dass er mit ihr gleichfalls gut bedient sein würde, stieß er ein zufriedenes
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