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Oksa Pollock. Der Treubrüchige

Oksa Pollock. Der Treubrüchige

Titel: Oksa Pollock. Der Treubrüchige
Autoren: A Plichota
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sich dem Drachen näherten: Die Anstrengung war ­ihnen deutlich anzusehen. Mitten in einem Sturm zu vertikalieren, war nicht gerade eine Kleinigkeit. Die beiden schlängelten sich zwischen den Flügeln des Drachen hindurch und ließen sich auf seinen Rücken fallen. Unwillkürlich entfuhr dem Geschöpf ein Schmerzenslaut, der Rhythmus seiner Flügelschläge verlangsamte sich, und die eigenartige Reisegesellschaft verlor ein paar Meter an Höhe. Oksa stieß einen Schrei aus.
    »Papa!«
    Pavel schwanden allmählich die Kräfte. Und denen, die neben ihm flogen, erging es nicht besser. Oksa wollte ihren Vater unterstützen und stand auf, um selbst auch zu vertikalieren. Ein tiefes Grollen drang aus dem Leib des Drachen.
    »NEIN! Du bleibst, wo du bist!«
    »Dann müssen wir aber eine Pause einlegen!«, schrie Oksa zurück. »Du musst landen, Papa, bitte. Sonst sind wir bald alle geliefert.«
    Pavel zögerte kurz und gestand sich schließlich ein, dass seine Tochter recht hatte.
    »Mutter, steck die Phosphorille weg, damit uns niemand sieht, und dann haltet euch alle gut an mir fest!«
    Die Vertikalierer klammerten sich an seinen Panzer, und der Drache tauchte schräg abwärts in den sintflutartigen, eisigen Regen.
    Der grelle Lichtkegel eines Suchscheinwerfers zuckte durch die Dunkelheit. Die vier Soldaten in dem Hubschrauber waren sich ganz sicher, nicht geträumt zu haben: So unglaublich es klingen mochte, sie hatten soeben die Flugbahn eines Ungeheuers mit riesigen Flügeln gekreuzt. Eine Art Drache. Eskortiert von fliegenden Menschen. Einen Moment lang hatten sich alle ungläubig angestarrt und der Pilot hatte vor Schreck beinahe die Kontrolle über den Hubschrauber verloren.
    Er war für einen Augenblick ins Trudeln geraten, und der Tintendrache hatte den kurzen Moment genutzt, um sich blitzschnell in größerer Höhe in Sicherheit zu bringen. Nun verfolgten die Rette-sich-wer-kann mit klopfendem Herzen, wie der Scheinwerfer des Hubschraubers unter ihnen die Dunkelheit durchkämmte. Plötzlich wurden sie von dem Lichtkegel gestreift. Sie waren entdeckt! Im nächsten Moment zerriss das Rattern der Rotorblätter die Luft: Der Hubschrauber kam auf sie zu!
    »Sie schießen auf uns!«, schrie Oksa, als sie sah, wie einer der Soldaten sich hinter einem riesigen Maschinengewehr in Stellung brachte.
    Instinktiv streckte sie die Hände vor sich aus, um die Kugeln daran abprallen zu lassen: Wieder einmal erlebte sie, dass sich ihre Panik im Augenblick der Gefahr schlagartig in eine ungeheure Energie verwandelte. Der Hubschrauber wurde von einem Sog erfasst, drehte sich um die eigene Achse und driftete mehrere Dutzend Meter weit ab.
    »Oh Gott, was habe ich gemacht?«, schrie Oksa entsetzt.
    »Du hast uns das Leben gerettet!«, gab ihr Dragomira zur Antwort.
    »Jetzt aber nichts wie weg hier«, rief Pavel mit rauer Stimme.
    Der Drache spannte seine Flügel weit auf und schwebte mit letzter Kraft in einer weiten Kurve zur Erde hinunter.

Der Marsch durch die Hügel
    D
as Haus des Bruders der Alten Huldvollen liegt zwölf Kilometer Luftlinie Richtung Nordnordwest von unserem Landepunkt entfernt«, verkündete ein kleines kegelförmiges Geschöpf, das die Nase zum Horizont gewandt hatte. »Auf dem Landweg bieten sich zwei mögliche Routen: die Bundesstraße und ein Pfad durch die walisischen Hügel. Die Straße ist die schnellere Verbindung, allerdings viel befahren, auf dem Pfad dauert es länger, der Weg ist aber versteckter.«
    Wie um die Ausführungen von Oksas Wackelkrakeel zu untermauern, drangen von fern Straßengeräusche heran. Obwohl der Tag noch nicht einmal angebrochen war, hörte es sich nach dichtem, ja chaotischem Verkehr an. Im Widerschein der Lichter waren Scharen von Vögeln zu sehen, die, aufgescheucht von dem Lärm und dem Gehupe, das Weite suchten. Auf der Flucht vor dem Hochwasser, das einen Teil Englands überschwemmt hatte, flohen die Menschen in Panik nach Wales und Cornwall.
    »Nehmen wir den Pfad durch die Hügel«, entschied Dragomira mit einem besorgten Blick auf Pavel.
    Oksas Vater hatte, erschöpft von dem nächtlichen Höllenflug, die Hände auf die Oberschenkel gestützt. Er bot einen erbärmlichen Anblick. Pavel war bis an seine letzten Kraftreserven gegangen, um die Rette-sich-wer-kann in Sicherheit zu bringen: Er hatte dem Regen getrotzt, den brennenden Schmerzen im ganzen Körper und vor allem seiner Verzweiflung darüber, ihr Zuhause verlassen zu müssen. Er biss die Zähne zusammen und
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