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Oelspur

Titel: Oelspur
Autoren: Lukas Erler
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Ihnen verpasst habe? Na, kommen Sie! Sie sind doch vom Fach! Oh, Verzeihung! Wahrscheinlich können Sie sich an die Symptome gar nicht mehr erinnern. Denken Sie nach! Was führt zu Angstzuständen, Herz-Kreislauf-Störungen, Bewusstlosigkeit und schließlich Koma? Richtig: Hypoglykämie. Eine massive künstliche Unterzuckerung ruft man am besten hervor mit einer schönen großen Dosis Insulin. In Kombination mit Rohypnol und Alkohol hätte es eigentlich ausreichen müssen, um Sie zu töten. Nun ja, Sie sind ein starker Mann, und leider hat man Sie ja auch schon nach einem Tag gefunden. Aber wie ich anfangs schon sagte, ich bin nicht unzufrieden mit dem Ergebnis.«
    Ich stand auf und stöpselte die Notrufapparatur wieder ein. Dann öffnete ich die Konfektschachtel auf dem Tisch, nahm eine Praline heraus und schob sie mir in den Mund. Morisaitte hatte jetzt sein linkes Auge auch geschlossen und schien sehr unregelmäßig zu atmen. Die Praline war elend süß.
    »Belgisches Konfekt wird allgemein überschätzt, finden Sie nicht?«
    Das linke Auge blieb geschlossen. Die Kommunikation war wirklich sehr einseitig.
    »Vielleicht komme ich Weihnachten noch mal vorbei«, sagte ich, »halten Sie durch!«
    Als ich über den sonnigen Marmorkorridor zurück in Richtung Park ging, kam mir eine Horde lachender Schwesternschülerinnen entgegen. Ihre hohen kichernden Stimmen übertönten alle Geräusche auf dem Flur, und durch die weiße Berufskleidung konnte man die knappe Unterwäsche schimmern sehen. Zum ersten Mal seit drei Monaten hatte ich das Gefühl, vielleicht doch normal weiterleben zu können. Glotz da nicht so hin, sagte Helen in meinem Kopf, und ihre Bossanova-Stimme hatte einen zärtlichen Unterton. Ich trat hinaus in den Park und sah die alte Dame mit dem Sonnenhut, die mir vorhin zugewinkt hatte. Sie unterhielt sich angeregt mit einem sehr großen, bulligen Mann mit kurzen blonden Haaren, der trotz der sommerlichen Temperaturen einen Trenchcoat trug. Ich erkannte ihn, noch bevor er sich zu mir umdrehte.
    Es war Geldorf.

Vierundvierzig
    M
    ein erster Impuls war abzuhauen. Die Entfernung zwischen uns betrug vielleicht einhundert Meter. Ich war jünger und vierzig Kilo leichter als er. Wenn ich quer durch den Park rannte und über die Außenmauer kletterte, konnte ich ihn leicht abhängen.
    Bestimmt kannst du das, aber was machst du dann? Helens Stimme in meinem Kopf war leise und eindringlich. Geldorf hat hier in Belgien keine polizeilichen Befugnisse, dachte ich. Meinst du wirklich, dass ihn das von irgendetwas abhält?
    Sie hatte recht. Außerdem war es zu spät, um wegzulaufen. Er hatte mich entdeckt und kam gemächlich auf mich zu geschlendert. Zwei Meter vor mir blieb er stehen, schirmte seine Augen mit der flachen Hand gegen die Sonne ab und sah mich nachdenklich an. Dann deutete er mit dem Zeigefinger auf das Klinikgebäude und fragte:
    »Haben Sie ihm das angetan?«
    »Keine Ahnung, was Sie meinen!«
    »Na, kommen Sie. Warum sollten Sie ihn sonst besuchen? Ein Krankenbesuch bei einem Feind macht nur Sinn, wenn man ihn genießen kann. Und so richtig genießen kann man es, wenn man ihm den Schlamassel eingebrockt hat.«
    Was immer Geldorf getan hatte, er war in der Zwischenzeit jedenfalls nicht dümmer geworden. Er wartete auf eine Antwort, und als ich schwieg, machte er einen Schritt auf mich zu.
    »Ach, scheiß drauf«, sagte er, »ich konnte den Kerl sowieso nicht leiden. Gehen wir ein Stück?«
    »Sie haben ihn also gekannt?«
    »Mein Gott«, sagte er, »ich kenne so viele Arschlöcher.«
    »Ich will nicht mit Ihnen reden.«
    »Ich weiß. Aber vielleicht können Sie zur Abwechslung mal zuhören.«
    Wir machten uns auf den Rundweg durch den Park und bewegten uns langsam auf eine Gruppe von Bäumen zu, in deren Schatten eine Sitzbank stand. Geldorf schwitzte und schnaufte, und sein Gesicht war rot angelaufen. Er sah aus wie ein wandelnder Herzinfarkt.
    »Sie haben von Anfang an gewusst, dass Helen Jonas ermordet worden ist«, sagte ich.
    »Nein, aber ich habe von Anfang an gewusst, dass Sie etwas mit dem Toten auf dem Bahnhofsklo zu tun haben! Warum haben Sie mir nicht einfach erzählt, was passiert ist?«
    »Ich habe Ihnen nicht getraut. Und wie man gesehen hat, war das goldrichtig.«
    »Ach, Quatsch! Als ich das internationale Strafregister von dem Typen gesehen habe, hab ich einen dicken Haken an die Sache gemacht. Das war mir völlig egal, wer den umgelegt hat. Ich lass mich nur nicht gerne verarschen,
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