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Oelspur

Titel: Oelspur
Autoren: Lukas Erler
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sind.«

Dreiundvierzig
    V
    ier Wochen später machte ich einen Krankenbesuch. Es war Mitte Juni, und alles deutete darauf hin, dass es ein heißer Sommer werden würde. Anna war nach Deutschland zurückgekehrt, und ich fuhr mit dem kleinen Peugeot auf einer Landstraße in Richtung Antwerpen und dachte mit Wehmut an die Münchner Biergärten. Auf dem Beifahrersitz lagen ein großer Blumenstrauß und eine Schachtel Konfekt.
    Die Privatklinik lag in einem Vorort von Antwerpen und war von einem riesigen Park umgeben. Im Schatten hochgewachsener Buchen saßen in kleinen Gruppen Menschen in Rollstühlen, die lasen, sich unterhielten oder einfach vor sich hin dösten. Über die gepflegten, kurz geschnittenen Rasenflächen huschte aufmerksames Pflegepersonal, servierte Eistee und kontrollierte die Urinbeutel. Eine alte Dame mit einem extravaganten Strohhut, die sich mit ein paar Krocketschlägern abmühte, winkte mir übermütig zu, als ich zum Hauptportal ging. Ich winkte zurück. Es war schön zu sehen, was die Zweiklassenmedizin so zu bieten hatte.
    Das Hauptgebäude der Klinik war eine große, wunderbar erhaltene Jugendstilvilla, und die elegante Mittvierzigerin mit den hochgesteckten Haaren, die mir an der Rezeption den Weg wies, passte perfekt in das Ambiente. Ich ging auf Marmorfußboden einen sommerlichtgefluteten Gang bis zum Ende und freute mich auf den Besuch. Natürlich hatte ich vorher angerufen, um sicherzugehen, dass es sich lohnte zu kommen.
    »Doch, doch«, hatte mir der freundliche Oberarzt versichert, »er versteht jedes Wort, das haben wir getestet. Aber er kann sich nicht äußern, auch nicht schriftsprachlich. Wenn Sie ihn etwas aufmuntern könnten, das wäre fantastisch.«
    Es war das letzte Zimmer auf der rechten Seite, und noch bevor ich an die Tür klopfte, konnte ich ihn riechen. Ärger und eine lächerliche moralische Empörung schossen in mir hoch. Die lassen ihn hier rauchen, dachte ich bitter. Dann klopfte ich an und ging darauf einfach hinein. Wie nicht anders zu erwarten, hatte er ein schönes Zimmer. In der Luft hing das unverwechselbare Aroma von Gauloises. Der Patient saß mit dem Rücken zu mir in einem Rollstuhl und schaute durch die großen Fenster hinunter in den Park. Er drehte sich nicht um, als ich die Tür hinter mir schloss.
    »Hallo! Besuch ist da!«, sagte ich fröhlich.
    Seine linke Hand tastete nach dem Joystick des Elektrorollstuhls, und mit einem leisen Schnurren drehte er beinahe auf der Stelle in meine Richtung.
    »Toller Wendekreis«, sagte ich. »Haben Sie vielleicht eine Vase für die Blumen? Ah, ja, ich sehe schon selbst!«
    Ich ging zum Waschbecken, füllte eine Kristallvase und stellte die Blumen auf den Tisch. Das Konfekt legte ich daneben und deutete mit dem Finger darauf.
    »Was Süßes für später!«
    Mein Blick wanderte durch den Raum, bis ich den Alarmknopf für die Schwestern fand. Ich zog den Stecker aus der Wand, setzte mich ihm gegenüber auf einen Stuhl und lächelte. Er saß völlig reglos da und starrte mich mit dem linken Auge an. Das rechte Augenlid hing schlaff herab und hinderte das Auge daran mitzustarren.
    »Wow«, sagte ich, »eigentlich wollte ich Sie umbringen, aber das hier ist um Klassen besser.«
    Morisaitte hatte die typischen Symptome eines schweren Schlaganfalls. Rechter Arm und rechtes Bein waren gelähmt. Eine Lähmung des Gesichtsnervs hatte sein rechtes Auge beinahe geschlossen und die gesamte rechte Gesichtshälfte nach unten gezogen, und da das Ereignis offensichtlich in der linken Hirnhälfte stattgefunden hatte, hatte es das Sprachzentrum gleich mit demoliert. Er sah nicht mehr annähernd so gut aus wie früher, aber das war sicher sein geringstes Problem. Ich deutete mit dem Finger auf den dicken Wulst, der sich unter seiner Jogginghose im Schritt abzeichnete.
    »Muss für einen Kontrollfreak wie Sie hart sein, wenn er nicht einmal mehr das da im Griff hat.«
    Morisaitte gab ein paar gutturale Töne von sich. Seine Gesichtshaut hatte sich gerötet, und sein linkes Auge funkelte hasserfüllt. Langsam kam ein bisschen Leben in die Sache.
    »Ich habe mir gedacht, dass Sie vielleicht wissen möchten, was passiert ist. Die Ungewissheit muss doch schrecklich sein. In einem Krankenhausbett aufzuwachen, gelähmt und sprachlos, und nicht die geringste Idee zu haben, wie um Gottes willen man da hingekommen ist. Also, um es kurz zu machen: Ursprünglich wollte ich mir einfach eine Pistole besorgen und Sie auf offener Straße erschießen.
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