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Oelspur

Titel: Oelspur
Autoren: Lukas Erler
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etwas heiser, und das Sprechen strengte mich an. Die Studenten drehten sich halb um, und einen Moment schien es so, als seien sie überrascht, dass ich noch da war.
    »Sehen Sie, die Aufforderung an den Mann lautete: Machen Sie bitte vor, wie man Kaffee kocht. Die ideatorische Apraxie ist charakterisiert durch die Unfähigkeit des Patienten, Bewegungen sequenziell zu komplexen Handlungsfolgen aufzubauen. Häufig kommt es, wie Sie sehr schön sehen konnten, zu sogenannten ratlosen Abbrüchen. Tatsächlich ist der Patient nicht in der Lage – ich zitiere –, ›eine Situation so zu organisieren, dass er logisch aufeinanderfolgende Handlungen mit mehreren Objekten ausführen kann, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen‹. Sie werden mir zustimmen, dass diese Störung durchaus alltagsrelevant ist. Die neurologischen Details hören Sie in der nächsten Woche. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.«
    Ich wartete das leise Lachen und den verhaltenen Beifall der Studenten ab und verließ den Seminarraum. Ich war so müde, dass ich die helle Stimme, die hinter mir meinen Namen rief, nicht sofort registrierte.
    »Dr. Nyström, bitte warten Sie!«
    Hinter mir war die junge Studentin, die sich bei der Verzweiflung des Mannes hinter der Scheibe so offensichtlich unwohl gefühlt hatte.
    »Ich möchte gern noch mehr dazu lesen. Das war echt bizarr, was er da gemacht hat, ich meine …«
    »Ja«, sagte ich, »das ist der besondere Witz an der Neuropsychologie. Eine kleine Verschiebung in der Chemie da oben – und: hasta la vista, baby!«
    Sie sah mich konsterniert an und hatte ganz offenbar eine wissenschaftlich differenziertere Äußerung erwartet.
    Ich riss mich zusammen und versuchte, freundlich zu sein.
    »Lesen Sie Control of Human Voluntary Movement von Rothwell. Schon etwas älter, aber eine gute Übersicht.«
    Sie war hübsch und hatte einen intensiv wissbegierigen Gesichtsausdruck, der mir gefiel.
    »Okay, ich muss los. Schönes Wochenende.«
    Mit einem gezwungenen Lächeln drehte ich mich um und hastete durch das große Glasportal des Instituts ins Freie. Es war später Nachmittag und ziemlich kalt für April. Ich spürte die Kälte in den Lungen und widerstand der Versuchung, mir eine Zigarette anzuzünden. Never before sunset, lautete Hemingways alte Säuferregel, aber das galt nicht für mich. Auch nach Sonnenuntergang würde es keine Zigarette geben. Ich hatte seit 434 Tagen nicht geraucht, und das war die längste Zeit meines Lebens gewesen. Ich ging über den Parkplatz, schloss den alten Saab auf und roch den letzten Rest des kalten Rauchs, der in den 434 Tagen nicht herausgegangen war. Der Lungenzug mit frischer Aprilluft hatte eine unbändige Lust auf eine Zigarette ausgelöst. Vorsichtig löste ich die Finger von der Marlboro-Schachtel in meiner Manteltasche und fuhr nach Hause. Ich hatte eine geräumige Altbauwohnung am Stadtrand von München, die mich weit mehr als die Hälfte meines Monatsgehalts kostete. Gut angelegtes Geld, wie ich fand. Helen liebte die Wohnung, aber sie war trotzdem wieder weggefahren. Und ich hatte sie gehen lassen.
    Ich dachte an die Studentin im Institut und wusste, dass ich sie beinahe angeschrien hatte wegen ihrer harmlosen Bemerkung. Von wegen bizarr. In Småland saß ein alter Mann in einem bunten Holzhaus, der sich dabei beobachtete, wie ihm der Verstand abhandenkam. Zumindest eine Weile würde er es noch merken.
    Bei meinem letzten Besuch in Schweden hatte ich die MRT-Bilder vom Gehirn meines Vaters gesehen und wusste, dass diese Weile kurz sein würde.
    Ein Neuropsychologe, dessen Vater an Alzheimer erkrankt, das war bizarr. Quatsch! Deutlich hörte ich Helens Stimme in meinem Kopf. Das ist auch nicht ungewöhnlicher als ein Augenarzt, dessen Vater blind wird. Oder ein Cowboy, dessen Vater Rinder stiehlt, obwohl … Wie immer hatte ihr Sarkasmus mich aus dem Stimmungstief herausgeholt.
    Ich ging zur Stereoanlage, schob eine CD von Yo-Yo Ma rein und setzte mich in einen Ledersessel, der so groß war, dass ich darin abtauchen konnte. Mit geschlossenen Augen konzentrierte ich mich auf den tiefen und warmen Klang des Cellos. Der beste Cellist aller Zeiten, hatte Helen verkündet, als sie mir die CD schenkte.
    Als meine Eltern nach Schweden zurückgingen, war völlig klar, dass ich in München bleiben würde. Nie im Leben hätte ich die bayerischen Biergärten gegen schwedische Alkoholgeschäfte eingetauscht. Schließlich hatte auch meine Mutter den jungen Gunnar Nyström in einem
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