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Oelspur

Titel: Oelspur
Autoren: Lukas Erler
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sollen?
    Was war, wenn die Platzangst nachgelassen hatte? Vielleicht hatte sie eine Therapie gemacht. Nein. Sie hatte viele Therapien gemacht in den letzten Jahren. Und dann beschlossen, die Klaustrophobie zu akzeptieren:
    »Es gibt Orte, an die kann ich nicht gehen. Stell dir einfach vor, dass es in einem großen Haus Zimmer gibt, die mich nichts angehen. Was soll’s!«
    Eben. Und deshalb war sie nicht freiwillig in die Saunakabine gegangen. Ich hatte es gewusst, als ich die Kabine gesehen hatte und war irgendwie unfähig gewesen, den Gedanken festzuhalten und weiterzudenken.
    Systematisch begann ich die Wohnung zu durchsuchen, ohne wirklich zu wissen, was ich finden wollte. Es waren drei Zimmer mit Küche und Bad, und es war völlig sinnlos. Irgendwie hoffte ich, einen Hinweis darauf zu finden, woran sie zuletzt gearbeitet hatte, und genau den gab es nicht. Die Wohnung war elegant, aufgeräumt und sauber. Nachdem ich den Schreibtisch durchsucht hatte, stand ich schließlich vor den Bücherregalen, die eine ganze Wand des großen Wohnzimmers bedeckten. Helen war unglaublich belesen gewesen. Mein Blick fiel auf die Buchreihe, die sich genau in Augenhöhe befand. Lauter literarische Bestseller der Neunzigerjahre. Umberto Eco, Lawrence Norfolk, García Márquez und der unvermeidliche Jostein Gaarden Sofies Welt war eines von Helens Lieblingsbüchern gewesen, und alle meine Versuche, ihr Gaarders Schmalspurphilosophie madig zu machen, hatte sie kühl zurückgewiesen. Ich schlug das Buch auf und fing an, darin herumzublättern. Helen hatte Textzeilen unterstrichen und die Seitenränder mit zahlreichen Kommentaren versehen. Als ich das Buch schräg hielt, fiel etwas heraus. Ich bückte mich danach und hob eine Visitenkarte auf, die offenbar als Lesezeichen gedient hatte.
     
    Dr. Volker Meiners
    Institut für Meeresbiologie
    Warnemünde
     
    Auf der Rückseite der Visitenkarte war eine Notiz in Helens Handschrift: 16.3., 13.30 Uhr. Das war vor knapp drei Wochen gewesen. Wieso hatte Helen einen Termin mit einem Meeresbiologen vereinbart? Als Wirtschaftsjournalistin?
    Ich ging zum Telefon und wählte die Nummer, die auf der Visitenkarte angegeben war. Nach zweimaligem Läuten meldete sich eine freundliche Frauenstimme:
    »Guten Tag. Sie sind verbunden mit dem Institut für Meeresbiologie in Warnemünde. Sie erreichen uns von Montag bis Freitag, jeweils zwischen acht und sechzehn Uhr. Vielen Dank für Ihren Anruf.«
    Okay, also am Montag. Ich hatte genug. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, hier zu übernachten. Aber das war unmöglich. Ich konnte Helens endgültige Abwesenheit in der Wohnung nicht einen Augenblick länger aushalten.

Sechs
    A
    ls ich aufwachte, hatte ich keine Ahnung, wo ich war. Durch geblümte Vorhänge fiel helles Sonnenlicht auf freundlich sterile Kiefernmöbel. Ich war nass geschwitzt und hatte wirres Zeug geträumt, an das ich mich nicht mehr erinnern konnte. Dafür fiel mir wieder ein, wie ich mich gestern Abend mit meinem Koffer in dieses kleine Hotel geschleppt hatte. Jeder einzelne Muskel tat mir weh, und ich war hungrig. Aber als ich mich aufrichtete, machte mein Magen einen kräftigen Satz, und ich schaffte es knapp, mich vor der Porzellanschüssel in Stellung zu bringen, bevor mein Abendessen mit dem Expresslift wieder nach oben kam.
    Später inspizierte ich das Frühstücksbuffet und fand ein paar Sachen, bei deren Anblick mein Magen nicht gleich revoltierte. Außer zu essen, zu schlafen und nüchtern zu bleiben hatte ich nichts vor, und so lief ich einfach los. Ich lief so lange durch die Gegend, bis ich müde wurde, und als ich am späten Nachmittag vor Helens Haus stand, war ich kein bisschen erstaunt. Wohin sonst hätte ich gehen können?
    Es war schon leicht dämmerig, und im Erdgeschoss brannte Licht. Ich hatte vorgehabt, mit den anderen Mietern zu sprechen, aber wozu? Was passiert war, hatte mit dem Haus nichts zu tun. Trotzdem wollte ich noch einmal in die Wohnung. Die ganze Zeit, in der ich am Fluss entlanggelaufen war, hatte sich der Gedanke in meinem Gehirn festgefressen. Ich musste etwas übersehen haben.
    Das Polizeisiegel an der Wohnungstür war nicht mehr da.
    Ich drehte den Schlüssel im Schloss herum und registrierte am Rande meines Bewusstseins, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Plötzlich wurde sie mit einer schnellen Bewegung aufgerissen, und ein Schmerz fuhr wie ein Bolzen meinen rechten Arm hinauf. Der Arm wurde sofort taub, und irgendwie verstand ich nicht, wie
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