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Oelspur

Titel: Oelspur
Autoren: Lukas Erler
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dem Taxi zu Helens Wohnung.

Fünf
    M
    ein Vater hatte einmal im Jahr einen heftigen Anfall von Heimweh, gegen den Ruth und ich machtlos waren, und so verbrachte ich meine Sommerferien als Kind zwangsweise in Schweden. Ich hasste es.
    Meine Freunde flogen mit ihren Eltern nach Teneriffa oder Gran Canaria. Sie erzählten von Beachpartys und Mädchen, wie es sie in Bayern gar nicht gab, und waren immer fantastisch braun. Das Ferienhaus meiner Großeltern an der Schärenküste dagegen war für mich der Inbegriff von Langeweile und Trostlosigkeit. Weit und breit keine Nachbarn, nichts als Strand, Kiefernwälder und jeden Tag Fisch. Bis ich das Mädchen traf.
    Wenn ich die Augen schloss, konnte ich das Bild nach fast dreißig Jahren in absoluter Klarheit abrufen. Blond, braun gebrannt und sehr zart, war sie der schönste Anblick, der mir in meinen zwölf Lebensjahren zuteilgeworden war. Sie saß in einer kleinen sandigen Bucht auf einem Stein, ließ die Beine baumeln und beobachtete das Wasser. Als ich näher kam, drehte sie sich um und sagte etwas in einem weichen Schwedisch, das ich nicht verstand und das mich trotzdem vollständig verzauberte. Mein Schwedisch war damals nicht besonders, aber das änderte sich in diesem Sommer. Wir waren drei Wochen unzertrennlich, und sie schrieb mir zwei Briefe nach München, die ich verloren habe. Als sie sich nicht mehr meldete, rief mein Vater ihre Eltern an und erfuhr, dass sie bei einem Badeunfall ertrunken war. Sie muss etwa zehn Jahre alt gewesen sein.
    Ich saß an Helens Schreibtisch, und wie eine Endlosschleife zog die Erinnerung an diesen Sommer durch mein Gehirn. Ich sah Bilder von Sonne und Strand, endlosem Himmel und einem verbotenen Lagerfeuer. Ich hörte verschwörerisch flüsternde Kinderstimmen und roch die Kiefernwälder. Aber der harte Kern dieser Erinnerung war Schmerz – das Gefühl zu fallen und die Gewissheit, etwas unwiederbringlich verloren zu haben.
    Es war ein emotionales Déjà-vu.
    Benommen und ziellos lief ich durch die Wohnung, betrachtete Fotos an den Wänden und hatte das verzweifelte Bedürfnis, irgendetwas aufzuräumen. Aber es gab nichts. Sogar die Polizei hatte alles ordentlich hinterlassen. Schließlich zog ich die Vorhänge zu, schaltete überall das Licht an und setzte mich in Helens Lieblingssessel. Dauernd sah ich ihr Gesicht vor mir, aber vor allem hörte ich ihre Stimme. Cool und melancholisch wie brasilianischer Jazz. Ich hatte mich in ihre Stimme verliebt, bevor ich sie überhaupt zu Gesicht bekam. Vor zwei Jahren, während eines Griechenlandurlaubs, hatte ich auf dem Balkon meines Apartments mitangehört, wie sie in zwanzig Sekunden den unausstehlichen Verwalter dazu brachte, ihr ein anderes Zimmer zu geben.
    Als ich den Rest von ihr sah, war ich rettungslos verloren.
    Keine Ahnung, wie lange ich im Sessel verharrte. Irgendwann nahm ich meine Wanderung durch die Wohnung wieder auf. Auch warum ich schließlich den Computer einschaltete, weiß ich nicht mehr. Als mein Blick auf ihn fiel, erinnerte ich mich wohl wieder daran, wie sie gesagt hatte:
    »Du kannst ihn mitbenutzen, wenn du hier bist. Das Passwort ist ›Gambit‹. Ein Schachausdruck. Man opfert die Dame, um das Spiel zu gewinnen. Hat man mit mir auch schon mal gemacht.«
    Ich tippte das Passwort ein und starrte ungläubig auf den Bildschirm. Es war nichts da. Keine E-Mails, keine eigenen Dateien, keine Bilder, nichts im »Papierkorb«. Die Festplatte war leer. Ich öffnete die Schreibtischschubladen und durchsuchte das Wandregal nach CDs oder Disketten. Nichts.
    Vorsichtig setzte ich mich auf einen Stuhl und versuchte, langsam und kontrolliert ein- und auszuatmen.
    Helen war Wirtschaftsredakteurin bei der Hamburger Allgemeinen Zeitung. Sie schrieb Artikel, machte Interviews und recherchierte. Vor ein paar Jahren war sie an der Aufdeckung eines Korruptionsskandals im Hamburger Innensenat beteiligt gewesen. »Ich kann dir für jede idiotische Behauptung eine Statistik ausdrucken«, hatte sie einmal lachend gesagt.
    Wo war das alles? Warum sollte sie die Festplatte löschen? Eine sehr gute Frage. Und wo wir gerade dabei waren: Warum sollte ein Mensch mit massiver Platzangst sich in einer sieben Quadratmeter großen Saunakabine niederlassen?
    Möglicherweise waren ja alle beruflichen Daten auf ihrem Computer in der Redaktion. Vielleicht – aber sie hatte auch sehr viel zu Hause gearbeitet. Da hätte sie die Daten gebraucht. Und warum hätte sie auch die E-Mails löschen
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