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Odins Insel

Odins Insel

Titel: Odins Insel
Autoren: Janne Teller
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fuhr er fort: »Ich hörte an dem Tag auf zu existieren, an dem ich aufhörte zu kämpfen.« Tränen liefen aus seinen Augen, sowohl aus dem geschlossenen wie aus dem offenen, und das Flüstern des Fremdlings wurde schneller, als hätte er Angst, nicht genug Zeit zu haben. »Was hat man, wenn man sich selbst verloren hat? In den Augen vieler Menschen ist das nicht so furchtbar. Es ist ja das, was alle tun. Was sie nicht verstehen, ist, dass es das Schlimmste ist, was man tun kann.« Der alte Mann hustete halb erstickt. »Das größte aller Verbrechen. Nichts zu tun.«

    Sigbrit Holland betrachtete den weinenden Mann, sagte jedoch nichts. Sie wusste, dass kein Trost der Welt ihm helfen würde. Und plötzlich wusste sie, dass die Leute genau davor Angst hatten: zu wissen, was sie nicht getan hatten und hätten tun sollen, oder zu wissen, was sie getan hatten und nicht hätten tun sollen. Das ist es, wogegen ich mich schützen muss, dachte Sigbrit Holland und legte die Hand auf ihren Bauch. Das war es, wovor sie ihr Kind schützen musste. Plötzlich überkam sie die Sehnsucht nach dem Fischer Ambrosius, und einen kurzen Moment bedauerte sie, dass sie ihm nichts davon erzählt hatte. Aber nein, es hätte nichts geändert.
    Sigbrit Holland stand auf und ging zu der Wand hinüber, an die sie die kleine vergilbte Karte mit den Kreuzen und den Kreisen gehängt hatte. Ihr Gesicht erhellte sich. Eines Tages vielleicht, wenn sie getan hatte, was sie tun musste, wenn der Jahrtausendwechsel lange vorbei und es wieder ruhig und sicher in Südnorden war, könnten sie und Ambrosius’ Kind hinausfahren und nach der Einfahrtroute suchen.
    Und als sie sich von der kleinen Karte abwandte und zu dem Fremdling hinübersah, der sich wieder hingelegt hatte und dessen zerschlagenes Gesicht noch immer glücklich lächelte, wusste Sigbrit Holland genau, was sie zu tun hatte. Sie setzte sich an den Tisch, nahm den Kugelschreiber und zog den Block zu sich heran. Dann schrieb sie mit fester Hand und großen Buchstaben oben auf die Seite: Es war kalt an dem Tag, an dem Odin in Smedieby eintraf …
     
    Das Weihnachtsessen war längst gegessen, und der Tanz zu Ehren der Reise der alten Rikke-Marie in die andere Welt war lange vorbei. Das Dorf war zur Ruhe gekommen, alle schliefen. Oder fast alle. Denn Odin, der darauf gewartet hatte, dass Mutter Maries Haus still wurde, kletterte nun aus dem Bett, zog Stiefel und Mantel an und schlich sich die Treppe hinunter, durch die Diele und aus der Tür hinaus. Er eilte über den Hofplatz zu Mutter Maries Stall.
    Rigmarole und Baltazar wieherten und kratzten ungeduldig mit den Hufen im Stroh.

    »Ja, ja. Die Zeit ist gekommen«, murmelte der kleine alte Mann, während er schnell die Pferde mit Stroh abrieb. »Ich sollte wohl besser die Unheilsbotschaften überbringen, obwohl ich wahrlich noch immer nicht ganz sicher bin, wie sie lauten.« Odin betrachtete einen Augenblick das milchig orangene Fohlen, während er nachdenklich an seinem Bart zog. Dann schüttelte er den Kopf. »Es tut mir Leid, aber ich muss dich zurücklassen, kleiner Freund«, sagte er und klopfte dem Fohlen auf den Rücken. »Um mit auf diese Reise zu kommen, muss man erwachsen sein und lange starke Beine haben.« Schnell legte er den beiden Pferden das Geschirr an und führte sie nach draußen. Rigmarole prustete und warf einen letzten Blick auf ihren Sohn, der ein einziges Mal wieherte und ansonsten im Stroh spielte, wohl zufrieden, den ganzen Platz plötzlich für sich alleine zu haben. Nun holte Odin den Schlitten. Aber der Schlitten war schwerer, als er sich erinnerte, und er musste sich sehr abmühen, aber schließlich hatte er ihn draußen und konnte ihn am Geschirr der Pferde festmachen.
    Odin nahm die Pferde bei den Zügeln und führte sie zu Fuß aus dem Dorf hinaus und noch ein gutes Stück den Weg hinunter, bevor er sie anhalten ließ und in den Schlitten kletterte. Er setzte sich in dem gut gepolsterten Sitz zurecht, zog die Schaffelldecke über seine Beine und wollte gerade den Pferden mit der Zunge zuschnalzen, als er Fußgetrappel hinter sich hörte.
    »Weihnachtsmann! Weihnachtsmann!«, rief Ida-Anna atemlos. Das war ihre letzte Chance, dem Weihnachtsmann zu erzählen, was sie sich wünschte. »Weihnachtsmann!«, rief sie wieder. Odin hielt die Pferde an, und bald hatte Ida-Anna den Schlitten eingeholt. Das Mädchen schnaufte so sehr, dass es zuerst nicht ein Wort herausbrachte, aber inzwischen war Odin etwas eingefallen,
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