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Odins Insel

Odins Insel

Titel: Odins Insel
Autoren: Janne Teller
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der die Einwohner Smediebys nach Hause gehen und sich auf den Weihnachtsabend vorzubereiten pflegten, indem sie ihr Weihnachtsnickerchen machten. Natürlich konnte nicht die Rede davon sein, dass Vetter Ambrosius woanders als im Haus des Schmieds schlief. Für Herrn Odin und den lange erwarteten und dringend benötigten Veterinär wurde arrangiert, dass sie bei Mutter Marie schliefen, nicht nur weil Herr Odin dort geschlafen hatte, als er das erste Mal nach Smedieby gekommen war, sondern auch weil Mutter Marie dem Veterinär Adelstensfostre einen prüfenden und etwas längeren Blick zugeworfen hatte und weil ihr ziemlich gut gefiel, was sie gesehen hatte.
     
    In der Zwischenzeit war Sigbrit Hollands Plan gescheitert.
    Kurz nachdem Gunnar der Kopf und sie den Ballon aus den Augen verloren hatten, war das grüne Fischerboot, das früher einmal grün-orange gewesen war, von der Küstenwache gestoppt worden. Sigbrit Holland hatte den ganzen Nachmittag auf der Polizei verbracht, wo ihre etwas lauen Erklärungen mehr als skeptisch aufgenommen worden waren. Glücklicherweise konnte sie die Papiere der Rikke-Marie vorweisen, und da der Wachhabende in Weihnachtsstimmung war und meinte, dass es traurig für die verstörte Frau und den Mann mit dem riesigen Kopf sei, wenn sie den Weihnachtsabend auf der Polizeiwache verbringen müssten, durften sie schließlich – nach einer einfachen Verwarnung – gehen, ohne dass Anklage erhoben wurde. Aber da war es bereits fünf Uhr, und die Weihnachtsaudienz der Königin war längst vorbei. Obwohl es nur eine Frage von Stunden sein konnte, bis Nordnorden auf Südnordens formelle Okkupation
der Insel und auf die Schließung der Meerenge mit einem militärischen Angriff reagieren würde, konnte Sigbrit Holland nichts anderes tun, als nach Hause zum Firökanal zu gehen – oder besser zu segeln.
     
    Aber Sigbrit Holland sorgte sich ohne Grund. Denn die Königin hatte sich bereits – nach vielem Nachdenken und mit Rücksicht auf ihr Land, seine Staatsangehörigen und seine Geschichte – entschieden.
    Sobald die Weihnachtsaudienz vorbei war, ging die Königin in ihre privaten Gemächer, wo sie einen Schraubenzieher hervorholte, ihren Schlüsselbund ergriff und durch die Korridore des Schlosses zu der nördlichsten Wand im nördlichsten Raum eilte. Sie vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war und schlüpfte schnell in die private Bibliothek. Ohne Zögern durchquerte die Königin den staubigen ovalen Raum, ging an Generationen von Dokumenten, Büchern und Staub vorbei, direkt zu König Enevolds IV. Schrank mit dem zusätzlichen Boden in der untersten Schublade. Sie bearbeitete die Schublade mit dem Schraubenzieher, bis sie nachgab, und hob das dicke vergilbte Dokument aus seinem Versteck. Sie legte den zusätzlichen Boden lose wieder an seinen Platz, steckte das Dokument in die Tasche und verließ die Bibliothek.
    Zurück in ihren privaten Gemächern gab die Königin dem Hofmarschall von Egernret Bescheid, dass sie unter keinen Umständen gestört werden durfte, und setzte sich an ihren Schreibtisch. Vorsichtig nahm sie das Dokument aus der Tasche, legte es auf den Tisch und glättete es behutsam mit der Hand. Die Königin schloss die Augen und seufzte tief, dann nahm sie den Telefonhörer und wählte die direkte Nummer des nordnordischen Königs.
     
    Das Telefon schellte viele Male, bevor der Hörer abgenommen wurde, und auch da war nicht der König selbst, sondern sein Hofmarschall am Apparat, und die Königin musste lange warten, bis der König ans Telefon kam. Aber schließlich hörte sie die Stimme ihres nordnordischen Amtskollegen.

    »Ihre Majestät?«, grüßte der nordnordische König kalt. »Welche Ehre.«
    »Fröhliche Weihnachten, Ihre Majestät«, sagte die Königin freundlich. »Fröhliche Weihnachten wünsche ich Ihnen und Ihrer Familie und der gesamten nordnordischen Bevölkerung.«
    »Auch Ihnen fröhliche Weihnachten, Ihre Majestät und Ihrer Familie und der südnordischen Bevölkerung«, antwortete der König ohne das geringste Zeichen von Entgegenkommen in der Stimme.
    »Es war ein schweres Jahr für unsere Nationen«, begann die Königin. »Ein besonders schweres und trauriges Jahr, vor allem was die Beziehung zwischen unseren beiden Ländern angeht.«
    »Ja …?« Der König war auf der Hut. Gewöhnlich – und vor allem in diesen Tagen – vertraute er keinem Südnordländer und Ihrer Majestät, der Königin, schon gar nicht.
    »In diesen modernen Zeiten ist
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