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Oder sie stirbt

Oder sie stirbt

Titel: Oder sie stirbt
Autoren: Gregg Hurwitz
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mehr wiedererkannte. Und dann kamen die Anwaltsrechnungen, noch mehr Lustlosigkeit, und morgens wachte ich auf dem Sofa im Erdgeschoss auf. Über allem lastete das bleierne Gefühl, dass ich im Grunde schon tot war. Dass nichts mehr zu mir durchdringen konnte. Und anderthalb Monate lang war auch nichts mehr zu mir durchgedrungen.
    Bis diese erste DVD aus der Morgenzeitung fiel.

[home]
    5
    K omm, mach noch mal«, bettelte Julianne und stand auf, um sich ihre Tasse aus der Kaffeemaschine im Lehrerzimmer nachzufüllen. »Nur noch
einmal.
«
    Marcello fuhr sich mit der Hand durchs geföhnte Haar und konzentrierte sich wieder auf die Arbeiten, die er zu korrigieren vorgab. Er trug eine alte braune Hose, Hemd und Sakko, aber keine Krawatte. Schließlich waren wir ja doch nur die Abteilung für Filmwissenschaft. »Tut mir leid, mir ist einfach grade nicht danach.«
    »Du hast eine Verantwortung gegenüber deinem Publikum.«
    »Ich bitte dich, lass mich endlich in Ruhe.«
    »Los. Bitte.«
    »Mein Instrument ist nicht bereit.«
    Ich stand am Fenster und blätterte in der
Variety.
Auf Seite drei fand sich tatsächlich ein flüchtiger Artikel über
They’re Watching
 – die Produktion war gerade abgeschlossen und die Erwartungen haushoch.
    Über die Schulter rief ich: »Marcello, jetzt mach’s doch einfach, damit sie endlich den Mund hält.«
    Er ließ seine Papiere aufs Knie sinken. » IN EINER WELT , IN DER ES NUR NOCH GENÖRGEL GIBT , STEHT EIN MANN GANZ ALLEIN .«
    Diese Stimme hatte Millionen von Kinotrailern den richtigen Kick gegeben. Wenn Marcello richtig loslegte, dann ging es einem durch Mark und Bein. Julianne klatschte begeistert in die Hände. » IN EINER ZEIT , IN DER DIE KORREKTUR VON SEMINARARBEITEN ÜBERFÄLLIG IST , MUSS EIN MANN IN FRIEDEN GELASSEN WERDEN .«
    »Schon gut, schon gut.« Gekränkt kam Julianne zu mir und stellte sich neben mich. Bevor sie sehen konnte, was ich las, ließ ich rasch die
Variety
sinken und starrte aus dem Fenster. Eigentlich hätte ich auch Arbeiten korrigieren sollen, aber seit ich diese DVD bekommen hatte, hatte ich Probleme, mich zu konzentrieren. An diesem Morgen hatte ich mich ein paar Mal dabei erwischt, wie ich Gesichter studierte und nach Anzeichen von Hass oder verhohlener Schadenfreude suchte. Julianne folgte meinem Blick. »Was guckst du denn da?«
    Studenten strömten aus den umliegenden Gebäuden auf den Hof. »Das Leben«, erwiderte ich.
    »Du bist vielleicht philosophisch«, meinte sie. »Du bist bestimmt Lehrer.«
    In der Abteilung für Filmwissenschaft an der Northridge University gab es hauptsächlich drei Sorten von Dozenten. Erstens solche, die wirklich unterrichteten und gern dabei zusahen, wie ein junger Geist seine Talente ausgrub. Zu denen gehörte Marcello, obwohl er sich nebenbei durchaus einen gepflegten Zynismus leistete. Dann kamen die Journalisten wie Julianne, die in ihren schwarzen Rollkragenpullis aus dem Klassenzimmer schossen, um ihre nächste Rezension oder einen Artikel oder ein Buch über Franco Zeffirelli zu schreiben. Schließlich fand sich noch der eine oder andere Oscar-Gewinner, der sich im Herbst seiner Karriere von hoffnungsvollen Studenten bewundern und vergöttern ließ. Und dann gab es noch so Leute wie mich.
    Ich beobachtete die Studenten, die auf ihren Laptops herumtippten und miteinander diskutierten. Die hatten ihr ganzes katastrophales Leben noch vor sich.
    Julianne stieß sich vom Fensterbrett ab und verkündete: »Ich brauch eine Zigarette.«
    » IN EINER ZEIT DES LUNGENKREBSES MUSS EIN TROTTEL DIE FÜHRUNG ÜBERNEHMEN .«
    »Jaja, schon gut.«
    Nachdem sie gegangen war, setzte ich mich vor die Arbeiten meiner Studenten, merkte aber, dass ich nur immer und immer wieder denselben Satz las. Also stand ich auf und streckte mich, dann ging ich zum Schwarzen Brett und betrachtete summend die Flyer, die dort hingen. Hier stand ich, Patrick Davis, ein Bild der Nonchalance. Mir wurde klar, dass ich eher mir selbst als Marcello diese Show vorspielte. Ich wollte mir nicht eingestehen, wie sehr mich diese DVD beunruhigte. Nachdem mich so lange stumpfe Gefühle beherrscht hatten – Depression, Lethargie, Feindseligkeit –, hatte ich ganz vergessen, wie es sich anfühlte, wenn sich echte Sorgen in die dünne Haut unter den Schwielen bohrten.
    Marcello zog eine Augenbraue hoch, sah aber nicht von seiner Arbeit auf. »Mal ganz im Ernst«, sagte er, »geht’s dir gut? Du kommst mir irgendwie ein bisschen angespannt vor. Also, noch
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