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October Daye: Nachtmahr (German Edition)

October Daye: Nachtmahr (German Edition)

Titel: October Daye: Nachtmahr (German Edition)
Autoren: Seanan McGuire
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siehst aus wie ein Goldfisch.« Das brachte ja wohl den Teich zum Überlaufen. Wer mich gut genug kannte, um mein Gesicht zu klauen, sollte es besser wissen, als Witze über meine Zeit als Fisch zu reißen.
    Meine bekanntermaßen kurzlebige Geduld war am Ende. Ich starrte sie wütend an und fauchte: »Was zum Henker bist du?«
    »Ein Holing. Dein Holing, um genau zu sein«, sagte sie. »Du weißt schon, diese Geister, die dein Gesicht tragen und kommen, um dich ins Reich – «
    »– der Toten zu geleiten«, vervollständigte ich. »Da gibt’s nur ein kleines Problem: Ich bin nicht tot .« Ein Holing ist das exakte Duplikat einer lebenden Person. Er wird erschaffen, wenn es für diese Person Zeit zu sterben ist. Holinge sind allerdings unglaublich selten, und die meisten Leute bekommen keinen. Mich hat mit Sicherheit nie nach dieser Ehre verlangt.
    May zuckte die Achseln. »Sterblichkeit ist haltbar. Ich hab Zeit, ich kann warten.«
    »Du kannst nicht mein Holing sein. Ich werde nicht sterben!«
    »Bist du sicher?«, fragte sie und musterte mich mit neu erwachtem Interesse. »Bist du zum Reinblüter und unsterblich geworden, als ich gerade mal weggeguckt habe?«
    »Ja! Ich meine, nein! Ich meine, ja, ich bin sicher!«
    »Das kommt mir kühn vor. Ich meine, du bist nicht gerade Miss Vorsicht persönlich. Hier, sieh dir das an.« Sie zog den Kragen ihres Sweatshirts herunter und enthüllte ein wüstes Narbengewebe auf ihrer linken Schulter. »Eisenkugeln, ja? Na, das ist natürlich ein Hinweis auf gute Überlebensaussichten. Oder vielleicht dies hier?« Diesmal hob sie den Saum ihres Hemdes und zeigte die gewundenen Klauenmale, die sich über ihren Bauch zogen. Ich hatte meine Narben nie von außen gesehen, sie sahen aus dieser Perspektive weit schlimmer aus. Manche dieser Wunden hätten eigentlich tödlich sein müssen.
    May stopfte das Sweatshirt wieder in den Rock. »Tut mir echt leid, dir das sagen zu müssen, aber du stehst definitiv nicht auf der Liste der zehn längsten Lebensspannen im Universum. Ich wünschte, es wäre so, denn wenn du stirbst, sterbe ich mit dir. Aber«, sie zuckte die Achseln, »das Schicksal hat keinen Kummerkasten.«
    »Warum willst du mich unbedingt überzeugen, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt, ehe ich – «
    »– ehe du diese sterblich Hülle abwirfst? Weil es so ist, Schätzchen. Es tut mir leid, aber es ist wahr. Und was hat es eigentlich mit dieser Shakespeare-Fixierung auf sich? Hat deine Mutter denn nie Nora Roberts gelesen?«
    »Zunächst, meiner Mutter bedeuten sterbliche Autoren nichts«, sagte ich langsam. Ihre schnellen Themenwechsel verwirrten mich. »Zweitens, ich bin 1952 geboren. Wie hätte ich da zu Nora Roberts kommen sollen? Mir eine Zeitmaschine leihen? Und drittens, wenn du Probleme mit meiner Shakespeare-Fixierung hast, warum trägst du dann dieses Shirt?«
    Sie blickte an sich herab. »Das steckte gerade im Spendencontainer der Heilsarmee. Ich hab mich ja nicht mit Klamotten manifestiert. Hast du eine Ahnung, wie schwer es für nackte Leute ist, einkaufen zu gehen?«
    »Ich bin noch nie nackt einkaufen gegangen«, sagte ich. »Ich dachte, du bist mein Holing, müsstest du das nicht wissen?«
    »Natürlich. Ich weiß alles, was es über dich zu wissen gibt – bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Universum entschieden hat, dass du mit Sterben dran bist, und mich erschaffen hat, um dich zu geleiten.«
    »Alles?« Mir gefiel diese Vorstellung nicht. Es gibt Dinge, von denen ich nicht möchte, dass sie irgendjemand weiß.
    »Alles. Was du an deinem sechsten Geburtstag anhattest, welche Blumen du auf Dares Grab gelegt hast. Ich weiß auch, was dir durch den Kopf ging, als du Tybalt in diesen roten Lederhosen gesehen hast – «
    Ich nahm die Hände hoch. »Hör auf! Ich glaube dir.«
    »Ja, das solltest du auch.« Grinsend fügte sie hinzu: »Ich bin ja noch nicht mal ins Detail gegangen.«
    »Glaub mir, das muss nicht sein.« Ich harkte mir mit der freien Hand das Haar aus dem Gesicht und bedachte sie mit einem langen, harten Blick. Ich sah ein fremdes, hyperaktives Spiegelbild. Nur: Ein Spiegelbild fängt gewöhnlich nicht an zu zappeln und seine Fingernägel zu studieren, während man selber still steht.
    »Warum also?«, fragte ich endlich.
    Ernüchtert schenkte sie mir den ersten vernünftig wirkenden Blick, den ich von ihr sah. »Ich nehme an, irgendjemand findet, du hast dir etwas Zeit verdient, deine Angelegenheiten ins Reine zu bringen, bevor du stirbst. Ich
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