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Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Titel: Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
Autoren: Batya Gur
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Widerrede leistete (zweimal für die Reparatur von Rohr brüchen, einmal für einen defekten Heizkessel), in den Brief kasten der Samirs aus dem dritten Stock, von denen er nicht einmal wußte, wie sie aussahen. Obgleich er den Verdacht hegte, daß der kleine, ältere Glatzkopf, den er ab und zu im Treppenhaus traf und der ihm forschende, argwöhnische Blicke zuwarf, der Hausverwalter sein mußte. Und somit der Verfasser jener Mitteilungen, die per Computer angefertigt wurden, Rechnungen auflisteten und nach ein paar Wochen auch die Namen der Familien, die in Verzug waren.
    Als er vor der Tür im Stockwerk über ihm gewartet, das mit Klebstreifen angebrachte Namenschild »Van Gelden«
    gelesen und schließlich zögernd an die Tür geklopft hatte, hatte er das Gefühl, gegen eine Angewohnheit zu verstoßen, an der er all die Jahre beharrlich festgehalten hatte. Auch in dem Mietshaus, in dem er gewohnt hatte, als Juwal noch ein verhungerter Pubertierender gewesen war, der eines Tages entdeckte, daß der Zucker ausgegangen war, und vorschlug, sich bei den Nachbarn etwas zu borgen, hatte Michael sich zurückgezogen.
    »Keine Nachbarn«, hatte er zu verstehen gegeben. »Es beginnt damit, daß du sie um etwas Zucker bittest, und zum guten Schluß endest du als ihr Hausverwalter.«
    »Es wird dir auch so nicht erspart bleiben«, hatte Juwal prophezeit. »Du kommst auch noch an die Reihe. Ich bin mir ganz sicher. Mutter hat es schon erwischt, aber für sie ist Opa eingesprungen.«
    »Wenn es mich nicht gibt, brauche ich auch für nieman den den Hausverwalter zu spielen.« Michael war hartnäk kig geblieben.
    »Was soll das heißen – wenn es dich nicht gibt? Es gibt dich aber doch!« hatte Juwal mit dem belehrenden Ton protestiert, den er immer dann annahm, wenn sein Vater in den Wolken zu schweben schien. Er hatte den Kopf mit kritischem Blick gesenkt, der forderte, daß sein Vater mit dem Schwachsinn aufhören sollte.
    »Als ob es mich nicht gäbe«, hatte Michael präzisiert. »Dies gelingt mir am besten, wenn ich nicht für ein Glas Zucker oder Mehl bei jemandem an die Tür klopfe. Das ist scheinbar der einzige Punkt oder zumindest einer der wenigen, in dem deine Mutter und ich uns von Anfang an einig waren.«
    Juwal, der offensichtlich, befürchtet hatte, noch mehr über die Gemeinsamkeiten und Differenzen seiner Eltern zu erfahren, hatte sich beeilt, das Thema zu beenden, und klein beigegeben: »Gut, dann eben nicht, ich werde einen Kakao trinken, da ist schon Zucker drin.«
    Michael hatte Angst vor dem lästigen Gespräch mit der Nachbarin, das sich nicht mehr umgehen ließ, da die Flek ken größer wurden und einen äußerst trostlosen Anblick der Vernachlässigung und Armut boten. Der Gedanke an Klempner, abgeklopfte Kacheln, Hammerschläge, Durcheinander und ähnliches sowie die Erkenntnis, daß er vergessen hatte, frischen Kaffee für den Feiertag zu besorgen, beunruhigten ihn mehr und mehr. Seine Angst und Anspannung wuchsen, je länger die Klänge des ansteigenden, dramatischen Themas der Eröffnung des ersten Satzes andauerten. Um sich abzulenken, fing Michael an, das Beiheft zu studieren. Er zog es aus der durchsichtigen Plastikhülle, die mit einemmal nackt und nichtssagend aussah, legte den Finger auf das schöne Antlitz von Carlo Maria Giulini, betrachtete das glänzende Haar, das die hohe Stirn nicht verbergen konnte, und wunderte sich, wie ein Italiener wie Giulini mit den Berliner Philharmonikern harmonierte.
    Er lauschte aufmerksam der Musik und versuchte hartnäckig, sein Herz vor den Klängen zu verschließen, um wenigstens einmal beim Hören dieser Symphonie seinem Ver stand die Oberhand zu lassen. Erst dann blätterte er lang sam in dem Beiheft, verweilte bei dem französischen Text, der Brahms' Lebenslauf zusammenfaßte, und las – nicht zum ersten Mal – den Text zu dieser Symphonie, die Brahms spät in seinem Leben komponiert hatte und die häufig »Beethovens Zehnte« genannt wurde.
    Sechzehn Jahre hatte Brahms an diesem Werk gearbeitet bis zur Vollendung der gesamten Symphonie. Im September 1868, nach einem äußerst schmerzhaften, längeren Zerwürfnis mit Clara Schumann, hatte er ihr zum Geburtstag eine Glückwunschkarte geschickt, auf der er schrieb: »Also blus das Alphorn heut«, und auch das Alphornthema, das das Finale durchdringt, notierte er auf ihre Geburtstags karte. Aber die nüchternen Worte des Beihefts, die die Chromatik beschrieben, auch etwas zur »Schlußfloskel« der
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